892. Süßes oder Saures

Süßes oder Saures

In der Glasschale hinter der Haustür lag ein kleines, rosa Bonbon. Es war schon richtig aufgeregt, denn endlich war es Abend geworden und schon bald würden die ersten verkleideten Kinder anklopfen und um Süßes bitten.
Für Bonbons war das der schönste Tag des Jahres, auch wenn sie kurz nach dem Verschenken verspeist werden würden. Doch für das kleine, rosa Bonbon war dieser Tag noch sehr viel besonderer, denn es hatte auch etwas ganz Besonderes vor.
Es klopfte. Die Hausherrin öffnete die Tür und sah sich einer Toilettenpapiermumie und einem Alien gegenüber.
»Süßes oder Saures!«, riefen sie gemeinsam und ließen sich dann ihre großen Tüten füllen.
Das Bonbon blieb zurück, was seine Aufregung nur noch steigerte. Der große Augenblick musste kurz bevor stehen.
Es klopfte erneut. Dieses Mal war es ein kleiner Vampir, dem ein Tropfen Kunstblut von der Lippe tropfte.
»Süßes oder Saures!«, rief der Kleine.
Die Hausherrin nahm die Glasschale zur Hand, hielt sie dem Vampir lächelnd entgegen und dieser griff beherzt hinein. So gelangte das kleine, rosa Bonbon in eine große Tasche, die fast bis zum Rand mit Süßigkeiten gefüllt war.
Die Freude des Bonbons steigerte sich in Unermessliche. Es hatte sein Ziel erreicht.
Von dem kleinen Jungen unbemerkt, bildete sich auf der glänzenden Verpackung ein gruseliges Gesicht, mit böse schauenden Augen und einem Mund voller scharfer Zähne.
»Jetzt seid ihr fällig.«, flüsterte es und lachte leise auf. Dann stürzte es sich auf ein Stück Schokolade und verschlang es in einem Stück.
»Yummy!«, sagte es zufrieden, rülpste und verspeiste ein anderes Bonbon, dass in der Nähe lag.
Von Minute zu Minute wurde das kleine, rosa Bonbon größer und gefräßiger. Es stopfte sich eine Süßigkeit nach der anderen ins Maul. Dabei wurde der Hunger aber nicht kleiner, sondern nur noch größer. Schon malte es sich aus, wie es nach dem Inhalt der Tasche, den Jungen auffressen würde.
Die normalen Süßigkeiten wurden immer weniger, bis schließlich das letzte Stück verspeist worden war. Aus dem kleinen, rosa Bonbon war mittlerweile ein riesig Großes geworden. Nun machte es sich daran, aus der Tasche auszubrechen, um sein allererstes Kind aufzufressen.
Der Stoff der Tasche bekam Risse und platzte auf. Das böse Bonbon fiel auf den Boden, wollte sich gerade auf den kleinen Vampir stürzen, da kam ein großer Hund angestürmt, schnappte sich den rosa Leckerbissen und verschwand damit in einem Busch.
Der Junge war völlig überrascht, als er bemerkte, dass seine Tasche kaputt und der Inhalt gestohlen worden war.
»Mama!«, rief er verzweifelt.
»Ich muss noch mal von vorn anfangen. Mir hat ein Hund alles geklaut.«
Der Hund hingegen zerfetzte das rosa Papier, zerbiss das Bonbon und war enttäuscht. Er hatte mit einem saftigen Braten gerechnet, hatte aber nur einen Klumpen Zuckerkram erwischt.
Enttäuscht ließ er das Bonbon unter dem Busch liegen, wo es schon bald vom Regen in Zuckerwasser zersetzt wurde.
Das Zuckerwasser drang in den Boden ein, wurde von den Wurzeln des Busches aufgenommen und verteilte sich in dessen Blättern und Ästen.
Was daraufhin mit dem Busch geschah, ist eine andere Geschichte.

(c) 2020, Marco Wittler


Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

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