900. Die gruseligste Gruselgeschichte

Die gruseligste Gruselgeschichte

Am Halloweenabend saß der Geschichtenerzähler an seinem Schreibtisch vor einem alten, vergilbten Blatt Papier, hielt eine Feder in der Hand und dachte darüber nach, was er heute schreiben wollte. Es fiel ihm allerdings nichts ein. Selbst das Flackern seiner Kerze, das ihn sonst so beruhigte und inspirierte, konnte dieses Mal nicht helfen.
Während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, klopfte es immer wieder an der Tür.
»Süßes, sonst gibt‘s Saures!«, hörte er immer wieder ihre Stimmen, die ihn aus seiner Konzentration rissen. Trotzdem stand er jedes Mal auf, nahm ein paar Süßigkeiten und eine seiner alten Geschichten und überreichte sie den Verkleideten.
Es sollten noch einige Stunden vergehen, bis er plötzlich eine zündende Idee hatte, bis ihm die beste, tollste und gruseligste Geschichte aller Zeiten einfiel.
Der Erzähler tunkte die Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben. Wort für Wort fesselte er auf das Papier und hörte nicht eher auf, bis er fertig war.
Müde legte in sein Bett und schlief innerhalb weniger Sekunden ein.
Es wurde still im Haus des Geschichtenerzählers. Die Kerze, die er hatte brennen lassen, näherte sich ihrem Ende und erlosch. Dunkelheit legte sich über den Schreibtisch und gab dem Schrecken, der nun lebendig wurde, den Startschuss.
Das alte Blatt Papier, auf dem die neue Gruselgeschichte geschrieben stand, begann zu zittern. Es hob sich ein paar Zentimeter in die Höhe und offenbarte etwas, Erschreckendes.
Grüne Tentakel kamen zum Vorschein, die die Geschichte zu tragen schienen. Dieses unvorstellbare Wesen sprang vom Schreibtisch und begann, sich suchend durch das Haus zu bewegen.
Es lief von Raum zu Raum, blickte augenlos in jede Ecke, schnupperte sich ohne erkennbare Nase an einer unsichtbaren Spur entlang.
Die Tentakel wurden immer größer, die Geschichte immer schneller. Das Monster erreichte das Schlafzimmer, blieb kurz vor dem Bett stehen und schien, die Situation einzuschätzen. Dann sprang es in die Luft und stürzte sich auf den schlafenden Erzähler.
An den vier Seiten des Blattes kamen lange, scharfe Zähne zum Vorschein, von denen die Gier herab tropfte.
Es fehlte nur noch eine Hand breit, bis zum ungeschützten Kopf des friedlich da liegenden Mannes. Doch sollte es sein Ziel nie erreichen.
Im selben Augenblick kam von der anderen Seite ein weiteres Blatt Papier mit einer Gute Nacht Geschichte angeflogen, die statt Tentakeln mit zwei Flügeln ausgestattet war.
Über dem Kopf stießen sie zusammen, fielen gemeinsam zu Boden, rollten darüber hinweg und landeten am Ende im Kamin, in dem sie sich beide in Rauch und Asche auflösten.
Damit verschwand die gruseligste aller Gruselgeschichten für immer aus dieser Welt.

(c) 2020, Marco Wittler

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