Knochen
Es war tief in der Nacht, als seltsame Geräusche auf dem abgelegenen Waldfriedhof ertönten. Ein Knacken und Krachen war aus einem der Gräber zu hören, gefolgt von einem Scharren.
Im fahlen Mondlicht riss der Boden auf. Eine knöcherne Hand kam zum Vorschein. Ein Skelett in zerrissener Kleidung kletterte aus dem Grab und streckte seine müden Knochen. In den leeren Augenhöhlen begann es, rot zu glühen.
Der blanke Schädel sah sich suchend um. Dann mühte sich das Skelett Schritt für Schritt stöhnend den Weg entlang.
»Wo steckst du?«, zischte es mit unheimlicher Stimme in die Stille, bekam aber keine Antwort.
»Wo bist du? Wo hältst du dich versteckt?«
Wie ein Verwirrter schlich es auf dem Friedhof kreuz und quer, trat dabei auf anderen Gräbern Blumen platt und riss ein paar Holzkreuze um.
»Zeig dich! Du kannst mir eh nicht entkommen.«
Das Skelett blieb vor dem Ausgang neben einer kleinen Kapelle stehen. Es schien nachzudenken. Bestand hier etwa eine übernatürliche Grenze, die es nicht unbeschadet übertreten konnte? Würden seine Knochen ungeordnet zu Boden fallen, wenn es den Friedhof verließ?
Auf dem einsamen Weg auf der anderen Seite war plötzlich ein Hecheln zu hören, das schnell näher kam. Ein Hund lief dem Toten entgegen, blieb vor ihm stehen und ließ einen Knochen vor seinen Füßen fallen.
Das Skelett nahm den Knochen, steckte ihn sich unter das zerrissene Hemd und atmete auf.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich meine Rippe vermisst habe.«
Der Hund machte ein verschämtes Gesicht und legte sich auf den Boden.
»Tut mir leid. Ich spiel zwar gern mit dir Stöckchen holen, aber dann solltest du deine Rippe so werfen, dass ich nicht tagelang in den Büschen danach suchen muss. Vielleicht nimmst du beim nächsten Mal einfach einen Ast.«
(c) 2020, Marco Wittler
Bild von GraphicMama-team auf Pixabay
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