917. Der Mann mit dem Narbengesicht

Der Mann mit dem Narbengesicht

Am Halloweenabend waren viele Kinder in kleinen Gruppen in der Stadt unterwegs, baten um Süßes, drohten mit Saurem und steckten selbst in schaurigen Kostümen.
Sie zogen von Haus zu Haus, ließen sich ihre Taschen immer mehr mit leckeren Süßigkeiten füllen.
Eine dieser Gruppen bestand aus Max und Lea. Die beiden waren schon seit dem Kindergarten ganz dicke Freunde. Sie hatten sich gemeinsam dafür entschieden, in diesem Jahre als Vampire für Angst und Schrecken zu sorgen. Mit langen, schwarzen Umhängen und einem blutigen Rinnsal am Mund sahen sie wirklich zum Fürchten aus.
Mittlerweile hatten die Zwei schon die ganze Nachbarschaft aus den Häusern geklingelt, ihre Taschen gut gefüllt und hätten eigentlich nach Hause gehen können, als Leas Blick auf das Haus am Ende der Straße fiel.
Dieses Haus war alt, die verwitterte Farbe blätterte schon seit Jahren von den Wänden und der Garten war von Unkraut überwuchert, dass man kaum die Fenster des Erdgeschosses sehen konnte.
»Lass uns dort klingeln.«, schlug Lea vor.
»Nur noch da. Dann ist meine Tasche voll.«
Max sah zu dem alten Haus und schluckte nervös.
»Muss das sein? Ich habe gehört, dass es dort nicht ganz geheuer sein soll. Die anderen in der Schule haben von einem Narbengesicht erzählt, von Monstern und Gespenstern. Ich bin mir sicher, dass es zu gefährlich ist, auch nur in die Nähe zu gehen.«
Lea überlegte einen Moment, sah dabei immer wieder auf ihre Süßigkeiten.
»Aber ich wollte dieses Jahr unbedingt meine Tasche bis zum Rand voll haben. Das geht aber nur, wenn wir überall klingeln. Sollen wir es nicht einfach mal versuchen? Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie alle immer behaupten.«
Sie ließ Max keine Wahl, nahm ihn an der Hand und zog ihn hinter sich her.
Nach wenigen Minuten standen sie vor dem rostigen Zaun, der den Garten nicht davon abhalten konnte, auf den Gehweg hinaus zu wachsen.
»Willst du das wirklich?«, fragte Max.
Leah war sich nicht mehr so sicher. Dieses Haus war unglaublich unheimlich.
»Klar.«, antwortete sie mit zittriger Stimme. »Jetzt sind wir hier, dann können wir nicht einfach wieder abhauen.«
Lea setzte den ersten Fuß auf das Grundstück, sah sich abwartend um. Da sich nicht augenblicklich gefräßige Monster auf sie stürzten, ging sie weiter. Max folgte ihr in sicherem Abstand.
Plötzlich sahen sie hinter einem der Fenster ein von Narben übersätes Gesicht, das sofort wieder verschwand.
Den Kindern stockte der Atem. Angst machte sich in ihnen breit. Sie waren entdeckt worden.
»Wir sollten sofort verschwinden.«, flüsterte Max und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.
»Ich kann aber nicht.«, sagte Lea.
Wie hypnotisiert ging sie weiter, ging die Stufen hinauf, legte den Zeigefinger auf die Klingel und drückte sie.
Es geschah nichts. Die Klingel gab keinen einzigen Ton von sich. Sie war tot.
Lea atmete tief durch und wollte gerade anklopfen, als sie die Tür öffnete. Dahinter erschien der Mann mit dem Narbengesicht, den sie schon im Fenster kurz gesehen hatten.
Die Kinder erschraken und zuckten zusammen.
»Hilfe!«, riefen sie gleichzeitig.
»Alles in Ordnung.«, sagte der Mann mit einer unerwartet freundlichen Stimme. »Ich werde euch nichts tun.«
Er begann zu lächeln. »Wisst ihr, alle Menschen in der Stadt haben Angst vor mir, weil mein Gesicht durch einen Unfall so entstellt wurde. Dabei bin ich alles andere als ein Monster.«
Er seufzte laut, kam aus dem Haus und setzte sich auf einen Stuhl, der dort stand.
»Jeder fürchtet sich vor mir und die Kinder erzählen sich gruselige Geschichten über mich und mein Haus. Ihr seid die ersten, die an Halloween an meine Tür gekommen sind. Das hat sich noch niemand getraut.«
Er stand wieder auf, holte eine Schüssel mit Süßigkeiten und setzte sich wieder.
»Ich habe mich aber jedes Jahr aufs Neue darauf vorbereitet.«
Er reichte die Schüssel herum und aß mit Max und Lea ein paar Schokoriegel. Dabei erzählte er von seinem Unfall und wie sein Leben davor gewesen war.
»Wir werden wieder mal vorbei kommen.«, versprach Lea. »Und wir werden allen in der Stadt erklären, dass sie mit ihren Schauergeschichten Unrecht haben und dich damit sehr verletzt haben.«

(c) 2020, Marco Wittler


Bild von Nina Garman auf Pixabay

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