921. Ein Werwolf zieht durch die Stadt

Ein Werwolf zieht durch die Stadt

In jeder Vollmondnacht, wenn der hell leuchtende Erdtrabant sein Licht zur Erde niedergehen lässt, geschehen seltsame Dinge, die zum einen wirklich unglaublich erscheinen mögen, zum anderen durchaus erschreckend sein können. Eines davon ist die unumstrittene Tatsache, dass sich der eine oder andere Mitmensch in etwas verwandelt, dass man nur aus Büchern oder Filmen kennt.
Mit dieser Sache meine ich natürlich nicht die Vampire, denn diese ist man allgemein gewohnt. Außerdem können sie ihr wahres Ich jederzeit zeigen, praktischerweise, wenn sie der Blutdurst überkommt. Das kennt man und man lebt damit.
Nein. Das was ich hier wirklich meine, ist eine Bedrohung, die wir den Leuten auf der Straße zunächst nicht ansehen können. Die Verwandlung, die sie durchmachen, geschieht immer nur in dieser einen Nacht im Monat, manchmal sogar zweimal in dieser Zeit.
In diesem Jahr, während ich also diese Zeilen schreibe wird es ein äußerst seltenes Phänomen geben. Es erwartet uns ein blauer Mond. Das soll bedeuten, dass innerhalb eines Kalendermonats zwei Vollmonde zu sehen sind, einer zu Beginn, einer am Ende. Doch damit der Besonderheiten nicht genug, denn der zweite Vollmond hat es wirklich in sich. Wenn er aufgeht, wird unser Kalender den 31. Oktober zeigen – Halloween.
Wovon handelt denn nun dieser Text, den ich für dich verfasse? Also, das Grausame, wovon ich berichten möchte ist der Werwolf. Er ist so etwas wie ein Wolf im Schafspelz. Er sieht den ganzen Monat über völlig harmlos aus und verhält sich ebenso. Doch wenn der Vollmond sein Licht auf ihn herab scheinen lässt, verwandelt sich dieser Mensch in einen großen, tödlichen Wolf, der alles angreift, was ihm unter die langen, scharfen Krallen gerät. Wen er dabei beißt, der muss sich ihm unweigerlich anschließen, denn auch er wird vier Wochen später zu einer gefräßigen Bestie.
Doch nun genug, von den langen Erklärungen, denn in der nun folgenden Geschichte geht es um einen solchen Werwolf und was in dieser Halloweennacht mit ihm geschah.
Der Vollmond ging auf. Schon während er über den Horizont kletterte, warf er sein fahles, weißes Licht über das Land, ließ es in Winkel, Ecken und auch Fenster kriechen. Einer dieser Lichtstrahlen erreichte ein Bett und streichelte über das Gesicht eines Mannes, der schlagartig wach wurde, zusammenzuckte und sich aufrichtete.
Er strich sich mit der Hand über die vom Licht beschienene Wange, spürte sofort die kraftigen Haare, die sich dort in Windeseile aus der Haut schoben.
»Oh, nein.«
Er erschrak, sprang aus dem Bett, lief ins Bett und sah in den Spiegel.
»Verdammt nochmal. Das kann ich grad so gar nicht gebrauchen.«
Er fluchte laut, war verzweifelt. Aber er wusste auch ganz genau, dass das, was jetzt gerade begann, nicht mehr aufzuhalten war.
Immer mehr Haare wuchsen auf seinem gesamten Körper, die Muskeln vergrößerten sich, sprengten den immer enger werdenden Schlafanzug auf, rissen ihn in Fetzen. Lange Reißzähne wuchsen im Mund, der sie zu einem geifernden Maul vergrößerte. Aus dem eben noch so harmlos schlafenden Mann war ein laut heulender Werwolf geworden.
Das erschreckende Wesen sah sich noch einmal im Spiegel an, dann brüllte es laut und sprang durch das geschlossene Fenster nach draußen. Die Glassplitter, die dabei auf es herab regneten, ignorierte es.
Der Werwolf lief los, rannte vom Stadtrand ins Zentrum hinein. Jeder Mensch, der ihn erblickte, rannte sofort in größter Panik davon, versuchte sich irgendwo ein sicheres Versteck zu finden.
Immer wieder blieb der Werwolf kurz stehen, sah sich um, nahm Witterung auf, verfolgte ein bestimmtes Ziel, dass er unbedingt finden und erreichen wollte. Dabei ignorierte er jedes Hindernis. Er sprang scheinbar mühelos über Bänke, Büsche und Autos, bis er die Hauptstraße erreichte. Vor einem Friseurladen blieb er schließlich stehen, roch noch einmal und nickte fast unmerklich.
Im Innern des Geschäfts entdeckte er noch eine letzte Person, die noch dabei war, alles zu reinigen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug der Werwolf das Glas der Tür ein, trat in den Laden hinein, knurrte die Friseurin an und setzte sich in einen der Stühle.
»Ich weiß. Dass sie schon geschlossen haben und es ist auch wirklich unverschämt, von mir, sie hier noch zu stören. Es tut mir auch leid, dass ich die Tür zerschlagen habe. Da sind irgendwie die Pferde mit mir durchgegangen.«
Der Werwolf versuchte zu lächeln, was ihm nur sehr schwer gelang.
»Können sie mir vielleicht die ganze Wolle abrasieren? Geht das? Ich meine, schauen sie mich doch mal an. Ich sehe schrecklich aus. So kann ich mich nirgendwo sehen lassen. Ich erschrecke alles und jeden.«
Die Friseurin nickte zitternd, griff zum Rasierer und legte los. Eine Stunde später saß ein harmloser, völlig unscheinbarer Mann vor ihr, der gar nicht mehr so furchteinflößend wirkte.
»Vielen Dank.«, sagte dieser. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin.«
Dann sprang er auf, stürzte sich lachend auf die Frau und biss sie.
»Tarnung ist einfach alles.«

(c) 2020, Marco Wittler


Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

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