920. Dunkelheit

Dunkelheit

Die Dunkelheit machte den Menschen der Stadt schwer zu schaffen. Es wurde bereits am Nachmittag dunkel und erst im Laufe des nächsten Vormittags wieder hell. In der Zeit dazwischen war es finstere Nacht, in der man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
Auch tragbare Öllampen konnten die Straßen nur in einem kleinen Umkreis erhellen.
Wie in jedem Jahr klagten sie sich gegenseitig ihr Leid und baten den Bürgermeister darum, etwas gegen die Dunkelheit zu unternehmen. Dieser hatte nur leider keinen passenden Einfall, um den Bewohnern seiner Stadt zu helfen.
Eines Abends kam ein alter, klappernder Karren über die holprigen Straßen gefahren und hielt mitten auf dem Marktplatz. An dieser Stelle hätte man ihn fast übersehen, wenn seine Besitzerin nicht ein kleines Feuerchen entfacht hätte.
Die alte Frau, die ihrem Gefährt entstiegen war, sah seltsam aus. Sie war in bunte, ausladende Gewänder gekleidet, trug einen großen, spitzen Hut auf dem Kopf und eine Krähe saß auf ihrer Schulter.
»Kommt herbei! Kommt herbei!«, rief der Vogel, nicht die Frau. »Komm zu Madame Bouvoir. Sie kann wahre Wunder wirken.«
Die Alte öffnete eine Kiste und holte verschiedenste Fläschchen und Pülverchen hervor, die sie an die näher kommenden Leute verkaufen wollte. Aber die Wünsche, die geäußert wurden, waren ganz anders.
»Wir wollen Licht gegen die Dunkelheit.«, hieß es aus allen Richtungen.
»Ein Mittel gegen die Dunkelheit.«, sprach die Krähe. »Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Madame Bouvoir wird ihr Bestes versuchen.«
Die alte Frau setzte ihren Vogel auf einer Stange ab und begann einen Zauberspruch zu murmeln. Sie begann mit einem Flüstern, steigerte ihre Stimme, bis sie bedrohlich schrie.
Es zogen Wolken auf, die das wenige Licht von Mond und Sternen verschlucken. Wind kam auf, Blitze zuckten vom Himmel herab.
Plötzlich tauchten aus allen Himmelsrichtungen kleine Lichter auf, die sich um den alten Karren sammelten und schnelle Kreise um ihn zogen.
»Hilfe!«, kreischten die Leute. »Das sind Geister! Weg von hier!«
Die Menge löste sich auf, drängte an die Ränder des Marktplatzes.
»Weicht nicht zurück.«, rief ihnen die Krähe hinterher. »Weicht nicht zurück, bleibt hier.«
Die Menschen blieben tatsächlich stehen. Sie waren zwar ängstlich, sahen dem wilden Treiben dennoch neugierig zu.
Madame Bouvoir schritt zu ihrem Karren, während sie unablässig ihren Zauberspruch wieder und wieder wiederholte. Sie ergriff eine alte, rostige Leuchte, dirigierte eine Hand voll Geister hinein und schloss über ihnen den Deckel. So verfuhr sie immer wieder, bis einundzwanzig Leuchten vor ihr standen, die den Platz in ein warmes Licht tauchten.
»Nehmt die Lampen!«, rief die Krähe. »Nehmt die Lampen und erhellt eure Stadt. Aber lasst euch eine Warnung sagen. Öffnet niemals die Deckel. Sonst wird euch ein Unheil geschehen.«
Madame Bouvoir setzte sich ihren Vogel zurück auf die Schulter, stieg auf ihren Karren und fuhr in die Nacht hinaus.

(c) 2020, Marco Wittler

Meine Inspiration zu dieser Geschichte kommt heute aus der #KleineKunstklasse von @fuchsfamos , deren Bild ich wirklich super finde.

 

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