141. Schlechtes Gewissen

Schlechtes Gewissen

»Buh!«, erschallte es weit über das Feld bis hin zum Waldrand.
Die Krähen flatterten erschrocken in die Luft und sahen sich ängstlich um, bevor sie sich wieder niederließen.
Und ein weiteres Mal war die gruselige Stimme zu hören. »Buh! Verschindet von meinem Feld.«
Die Vögel erschraken ein weiteres Mal und flogen nun endgültig fort. Hier wurde es ihnen zu unheimlich. Es wurde wieder still auf dem Feld.
Ein kleines Kaninchen hatte aus seinem Versteck alles gehört und gesehen. Doch nirgendwo war ein einziger Mensch zu sehen, der die Krähen hätte erschrecken können. Verwundert verkroch es sich wieder in seinen Bau und zählte seine Mohrrüben.
»Was für ein Leben muss ich hier nur führen.«, war nun wieder die Stimme auf dem Feld zu führen.
»Tag für Tag stehe ich hier bei Wind und Wetter und muss die Vögel verscheuchen, damit sie nicht die Ernte fressen. Das kann doch nicht alles sein.«
Es war Walter, die alte Vogelscheuche, der sich nun beschwerte. Er bestand aus einer alten Hose, einem alten Hemd. Auf seinem Kopf, einem alten Fußball, saß ein großer Strohhut.
»Wenn ich mir wenigstens ab und zu die Beine vertreten könnte. Aber der Bauer hat mich auf einen Besenstil gesteckt. Ich weiß nicht einmal, wie ich mich davon befreien soll.«
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie langweilig ein solches Leben sein kann. Jedes Mal, wenn ein Tier zu Besuch kommt, müssen sie von der Vogelscheuche erschreckt und verjagt werden.
Plötzlich kribbelte es in Walters Brust. Er öffnete einen Hemdknopf und sah in seine Strohfüllung hinein. Dort entdeckte er einen kleinen Wurm, der munter vor sich hin kroch.
»Hallo Vogelscheuche.«, sagte der kleine Wurm. »Warum machst du denn so ein trauriges Gesicht?«
»Ach, mein Leben ist so gräßlich.«, antwortete die Vogelscheuche.
»Tag für Tag stehe ich hier und erschrecke die vielen Tiere, damit sie dem Bauern nicht die Ernte weg fressen. Aber ich bin dabei so einsam, dass ich die vielen Tiere so gern zu mir einladen würde. Du bist der erste, der keine Angst vor mir hat und mit mir redet.«
Walter seufzte laut und ließ den Kopf hängen. Der kleine Wurm kroch ein paar Zentimeter vorwärts und sah nun mit seinem Kopf aus dem Stroh heraus.
»Dann hör doch einfach auf, die Tiere zu erschrecken. Du wirst sehen, sie werden sich an dich gewöhnen und deine Freunde werden.«
Die Vogelscheuche schüttelte den Kopf.
»Das geht doch nicht. Es ist doch meine Aufgabe, die Tiere von diesem Feld fern zu halten. Der Bauer wird bestimmt richtig sauer, wenn plötzlich Teile seiner Ernte nicht mehr da sind. Da muss es doch noch eine andere Lösung geben.«
Der kleine Wurm dachte nach, aber es viel ihm nichts ein. Schließlich kroch er im Stroh nach unten und buddelte sich in den Boden hinein. Doch seine letzten Worte konnte Walter noch hören.
»Ich überlege mir etwas. Ich werde eine Lösung für dich finden. Das verspreche ich dir.«
Der Wurm hatte sich schon ein paar Meter durch den Boden gegraben, als er erneut ein ›Buh!‹ hörte.

Die Krähen zogen in einem weiten Bogen um das Feld herum. Sie konnten keinen Menschen sehen, doch jedes Mal, wenn sie zur Landung ansetzten ertönte diese grässliche Stimme. Nun trauten sie sich nicht mehr, auch nur ein Maiskorn oder eine einzige Erbse zu stibitzen. Stattdessen hungerten sie und suchten verzweifelt nach Nahrung.
Doch da erklang eine leise Stimme vom Waldrand. Die Vögel sahen nach unten und entdeckten einen kleinen Wurm. Sofort bekamen sie noch größeren Hunger und stürzten sich zu Boden. Allerdings war der Wurm schneller und verschwand wieder im Boden.
»Bitte fresst mich nicht.«, erklang seine ängstliche Stimme. »Ich habe euch etwas Wichtiges zu erzählen.«
Die Krähen wurden neugierig und lauschten dem genialen Plan.

Ein paar Tage später sah der Bauer aus seinem Fenster und wunderte sich. Bisher hatten es die Krähen immer wieder versucht, an seine Ernte zu kommen. Doch die Vogelscheuche hatte sie immer sofort vertrieben. Ständig konnte man die schwarzen auf und ab fliegen sehen. Doch nun war von ihnen nichts mehr zu sehen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass die Vogelscheuche so gute Arbeit leisten würde.«

Aber was war da nur geschehen?
Walter stand noch immer an seinem Platz. Doch mittlerweile machte er ein viel glücklicheres Gesicht. Sein schlechtes Gewissen war völlig verschwunden, denn durch die Hilfe des kleinen Wurms musste nun nie wieder ein Tier verscheuchen.
In diesem Moment kam ein kleiner Schwarm Krähen angeflogen.
»Wir haben großen Hunger auf leckeren Mais.«, riefen sie ihm schon vom Weiten entgegen.
»Dann haltet euch in westlicher Richtung. In etwa achthundert Metern Entfernung findet ihr ein riesiges unbewachtes Maisfeld.«, antwortete die Vogelscheuche.
Die Vögel waren dankbar, dass sie nun nicht mehr vertrieben, sondern auf andere Felder umgeleitet wurden. Sie mussten nie wieder Hungern.
»Vielen Dank, liebe Vogelscheuche. Du bist ein wirklich guter Freund.«
Walter war ebenfalls glücklich. Er musste nie wieder ein Tier erschrecken und sein Bauer bekam eine reiche Ernte.

(c) 2008, Marco Wittler

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