210. Der unsichtbare Pfau

Der unsichtbare Pfau

Zoodirektor Müller spazierte die Wege entlang. Hin und wieder sah in eines der Tiergehege hinein und winkte den Bewohnern zu. Es waren große Bären, Tiger, Giraffen, Elefanten, aber auch kleine Erdmännchen, Waschbären, Hängebauchschweine und mehr.
Jeden Tag kamen unzählige Besucher hierher und bestaunten die vielen Tiere. Auf der anderen Seite der hohen Zäune und Glasscheiben besahen sich die Tiere ihre Besucher und staunten ebenfalls.
»Hast du das Kind mit dem großen Eis in der Hand gesehen?«, flüsterte ein Affe dem anderen zu.
»Ich wette, wenn ich gleich einen Purzelbaum mache, fällt das Eis zu Boden.«
»Zwei Bananen, dass es auf sein Eis aufpasst.«, ging der andere auf die Wette ein.
Und schon sprang einer der Affen vor das Fenster und machte einen Purzelbaum nach dem anderen. Doch das Eis blieb fest in der Hand des Kindes.
»Verdammt und zugenäht.«, fluchte er nach ein paar Minuten und übergab die zwei verlorenen Bananen.
So ging es jeden Tag. Die Menschen vertrieben sich ihre Zeit damit, die Tiere anzusehen. Und die Tiere taten das Gleiche, nur umgekehrt.
Zwei Seehunde kamen in diesem Moment durch eine Klappe aus ihrem Schlafraum und betraten das Gehege.
»Applaus, ich will unbedingt Applaus.«, rief einer der beiden.
Der Zweite stimmte sofort mit ein. Sie glitten in ihr Wasserbecken, tauchten von einer Seite zur anderen und vollführten atemberaubende Sprünge in die Luft. Für jedes Kunststück klatschten die Menschen so laut sie konnten.
Zoodirektor Müller sah den Besuchern und seinen Tieren nur zu gern zu. Er freute sich, dass sich hier jeder wohl fühlte und Spaß hatte.
Doch als er um eine Ecke bog, sah ein trauriges Tier. Es war Paul, der Pfau, der mit gesenktem Kopf einen Weg entlang schlich.
»Mensch, Paul, was ist denn mit dir los?«, fragte der Direktor.
Paul seufzte.
»Ach, Herr Direktor. Es ist einfach nur traurig. Tag für Tag durchstreife ich den Zoo. Ich laufe den Besuchern entgegen, gehe mit ihnen mit oder stehe ihnen sogar im Weg. Aber niemals werde ich beachtet.«
Er ließ einen weiteren Seufzer hören.
»Jedes Kind läuft an mir vorbei. Kaum kommen sie um die Ecke, höre ich schon ihre Stimmen. Sie wollen zu den lustigen Affen oder wollen den hungrigen Löwen bei der Fütterung zuschauen. Selbst die langweilige Riesenschlange, die sich den ganzen Tag über nicht bewegt, bekommt mehr Aufmerksamkeit als ich. Ich glaube, wenn ein Tier im Zoo nicht eingesperrt ist, wird es nicht als es Besonderes angesehen. Es ist fast so, als wäre ich komplett unsichtbar.«
Direktor Müller hatte sich das Problem genau angehört und versprach Paul, sich darum zu kümmern. Er wollte sich etwas einfallen lassen.
Am Abend setzte er sich in das Kassenhäuschen und verabschiedete die Besucher. Jeden befragte er, wie ihm der Pfau gefallen hätte. Doch die Antworten waren immer gleich.
»Pfau? Welcher Pfau? Habe ich nicht gesehen.«
Es war zum verzweifeln.
Die nächsten Tage waren nicht besser. Auch ein großes Schild über dem Eingang, das auf den Pfau hinwies, brachte keine Besserung.
»So kann das doch einfach nicht mehr weiter gehen.«, sagte sich der Zoodirektor.
»Es muss etwas geschehen.«
Er betrat den Dachboden seines Hauses und wühlte durch alle Kisten und Kästen, die sich dort befanden. In ihnen lagerten unzählige Dinge, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte. Da waren große Geweihe, Hörner, Felle, lange Zähne und mehr. Doch nichts schien zum Pfau zu passen. Doch dann fand Herr Müller in der letzten Kiste einen Haufen Federn. Sie waren lang, bunt und sahen an ihrem Ende wie große Augen aus.
»Das ist es. Das ist die Lösung.«
Er packte alle Federn und seinen Arm und rannte durch den Zoo, bis er Paul fand.
»Mein lieber Paul, ich glaube, ich habe etwas für dich gefunden, dass dir mehr Beachtung einbringen wird.«
Ganz stolz zeigte er die Federn vor, die er schnell zu einem Rad gebunden hatte.
»Das befestigen wir an deinen Schwanzfedern. Wenn du dieses bunte Rad aufstellen wird und es hinter dir im Sonnenlicht schimmert, wird jeder stehen bleiben und unbedingt ein Foto von dir machen wollen.«
Paul war begeistert, als er sich ein paar Minuten später betrachtete. Denn schon im nächsten Augenblick blieben die ersten Zoobesucher stehen und sahen erstaunt auf dieses Tier, dass sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten.
Seit dieser Zeit tragen die meisten Pfauen ein buntes Federrad mit sich.

(c) 2009, Marco Wittler

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