1005. Der kleine König und die Friedensrose

Der kleine König und die Friedensrose

Es herrschte Krieg. Auf einem großen Schlachtfeld standen sich zwei Armeen gegenüber, die von Kopf bis Fuß mit Rüstungen, Schildern und Waffen bestückt waren. Sie warteten nur noch auf die Kommandos ihrer Generäle, um gegeneinander zu kämpfen.
Auf der einen Seite stand die riesige, kaum zu überblickende Streitmacht der großen Kaiserin aus dem immer weiter wachsenden Imperium. Ihnen gegenüber stand die viel kleinere Armee des kleinen Königs aus dem kleinen Land, die gegen eine solche Übermacht nicht den Hauch einer Chance hatte. Trotzdem waren sie dazu entschlossen, ihr Bestes zu geben und bis zum letzten Mann zu standhaft zu bleiben.
Der kleine König sah sich verzweifelt um. Vor ihm die kaiserlichen Soldaten, die ihn schon bald angreifen würden, hinter ihm sein kleines, aber stolzes Königreich, dass es bis zum Abend wohl nicht mehr geben würde.
Er nahm sich ein Fernrohr zur Hand, setzte es vor sein Auge und blickte seine Gegnerin an, die mit versteinerter Miene den Arm hob. Es war wohl so weit
»Ich unternehme einen allerletzten Versuch, mit ihr zu reden. Vielleicht können wir das alles doch noch friedlich lösen. Ich könnte abdanken, meinen Thron räumen und zumindest das Blutvergießen verhindern.«
Er verließ seinen Kriegsstand und wedelte mit einer weißen Fahne. Die Kaiserin ließ langsam ihren Arm sinken und wartete ab.
Der kleine König ging auf sie zu, pflückte unterwegs noch ein paar schöne gelbe Rosen, die es so nur in seinem Reich gab, für die er von vielen anderen Herrschern beneidet wurde und steckte sie zu einem Strauch zusammen. Er hatte die Hoffnung, seine Gegnerin mit diesem Geschenk etwas besänftigen zu können.
»Ich komme in friedlicher Absicht.«, rief er ihr entgegen. »Ich möchte mit euch reden, bevor hier unnötig Menschen kämpfen und sterben.«
Der kleine König streckte der Kaiserin den Strauß entgegen und lächelte.
Die Kaiserin hingegen sah auf den König, dann auf den Strauß und wurde rot im Gesicht.
»Ein Geschenk? Ein Strauß Rosen? Für mich?« In ihr hartes Gesicht stahl sich ein kleines Lächeln. Die Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben.
»Mir hat noch nie jemand ein so schönes Geschenk gemacht. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Die Kaiserin nahm die Blumen entgegen. Eine Träne kullerte an ihrer Wange herab. Laut schniefte sie und drehte sich zu ihren Soldaten um.
»Der Krieg ist vorbei. Die Schlacht findet nicht statt. Ich habe gerade gelernt, dass Menschen auch zu ihren Feinden nett sein können, egal wie unterschiedlich ihre Meinungen und Absichten sind. Ich kann und will das kleine Königreich nicht erobern.«
Sie reichte dem kleinen König ihre Hand, lud ihn in ihr Zelt ein und quatschte mit ihm bis spät in die Nacht hinein. Auf dem Schlachtfeld, das nie eines werden sollte, wurden sie zu Freunden.

(c) 2021, Marco Wittler

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