1114. Der kleine Laden am Hafen

Der kleine Laden am Hafen

Im Hafen an der Küste stand als Überrest eines alten Schiffes eine Brücke, auf der so mancher Seemann stürmische Nächte auf See verbracht hatte. In diesem kleinen Gebäude war seit ein paar Jahren ein kleiner Keramikladen untergebracht.
In der nahen Stadt munkelte man unter vorgehaltener Hand, dass es darin in der Nacht spuken sollte. So manch Seemann, der in Unwettern sein Leben gelassen hatte, sollte diesen Ort immer wieder aufsuchen. Da man aber noch nie einen Geist hier gesehen hatte, wollte es auch offen aussprechen. Den Geschäften des Ladens schadeten diese Gerüchte glücklicherweise nicht. Das Gegenteil war sogar der Fall. Es kamen immer wieder Menschen von weit her, um vielleicht doch einen Blick auf eine ungewöhnliche Erscheinung werfen zu können.
Eines Abends, die Tür des Ladens war gerade verschlossen worden, zogen am Horizont dunkle Wolken auf. Ein kräftiges Gewitter kündigte sich an und schickte eine steife Brise als Vorbote der Küste entgegen. Wer konnte, verkroch sich in seine vier Wände, um auf besseres Wetter zu warten. Die Einzigen, die sich jetzt noch unter freiem Himmel herumtrieben, waren Seeleute, die zwischen der alten Spelunke und ihren Schiffen unterwegs waren.
Als der erste Blitz aus den Wolken schoss und sich seinen Weg zur Meeresoberfläche suchte, kam plötzlich Leben in den kleinen Keramikladen. In einem der Regale begann eine Tasse, die mit einem Anker verziert war, sich zu bewegen. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, das sich nach ein paar Sekunden in ein Beben steigerte. Die Tasse schwebte hoch und suchte sich einen Weg durch eine kleine Luke nach draußen. Statt irgendwo an einer Wand oder dem Boden zu zerschellen, platschte sie in das Hafenbecken.
Von den Seemännern unbemerkt, wurde in ihr ein Ast aufgestellt und daran ein alter Stofffetzen als Segel hochgezogen. Der Wind blies sofort hinein und trieb das ungewöhnliche Segelschiffchen schnell Richtung Meer.
Außer Sichtweite wurde der Seefahrer sichtbar. Ein kleiner Geist schwebte in der Tasse, zog sein Segel hin und her und trotzte den Wellen, die immer höher wurden.
»Dieses Mal wirst du mich nicht in dein nassen Grab holen.«, rief er dem Unwetter entgegen. »Dieses Mal werde ich allen Gefahren trotzen und dir widerstehen.«
Die Tasse tanzte wild auf dem Wasser. Immer wieder brachen die Wellen über ihr zusammen und drohten, sie zu versenken.
»Oh, oh!«
Der kleine Geist bekam es mit der Angst zu tun. Sollte er ein weiteres Mal nicht wieder nach Hause kommen? Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, in einem Unwetter aufs Meer hinaus zu fahren. Er wollte seine Tasse wieder zurück an Land steuern, konnte es aber nicht mehr sehen. Die Wellen waren dafür viel zu hoch. Was war die richtige Richtung? Er bekam Angst. Dass er als Geist einfach hätte davon schweben können, fiel ihm gar nicht mehr ein.
Als es noch dunkler wurde, man vor lauter Regen kaum noch etwas sehen konnte, flammte ein kräftiges Licht auf. Es war der Leuchtturm, der sich neben dem Hafen befand.
Der kleine Geist atmete auf, riss sein Segel herum und steuerte in Windeseile zurück. Mit letzter Kraft durchquerte er die Mauern, die die Wellen abhielten.
»Puh! Das war knapp. Auf so eine dumme Idee werde ich nie wieder kommen. Nicht auszudenken, wenn meine Tasse untergegangen wäre. Sie gehört doch wieder zurück ins Regal.«
Vorsichtig entfernte er Segel und Ast und brachte die Tasse zurück an ihren Platz im Keramikladen.

(c) 2021, Marco Wittler

Inspiriert wurde diese Geschichte durch eine Zeichnung von Hendrike (@fuchsfamos) auf Twitter. Ich hatte sofort diese Geschichte im Kopf und musste sie einfach aufschreiben.

Der kleine Keramikladen ist von Seemannsbraut (@Friesenfliesen) inspiriert, den ich einfach süß finde.

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