1136. Curtis geht auf Reisen

Curtis geht auf Reisen

Nach einer langen, dunklen Nacht, kündete ein kaum sichtbarer Lichterschein den kommenden Morgen an. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne zuerst den Horizont und schließlich den Himmel erklimmen würde. Erste Vögel begannen in ihren Nestern zu singen und fleißige Hände hatten bereits den Tau auf den Wiesen versprüht. Nach und nach schalteten die Sterne ihre kleinen Laternen ab und der Mond legte sich müde ins Bett. In der Ferne schlug eine Kirchenglocke sechs Mal hintereinander.
Um diese Zeit kamen gerade die ersten Menschen aus ihren Betten und machten sich bereit, in ihr Tagwerk zu starten, während sich die Geschöpfe der Nacht langsam zur Ruhe betteten. Eines dieser Wesen lebte seit undenkbar langer Zeit auf einem alten, englischen Landsitz, der zwischen wunderschönen Parks und Wäldern versteckt lag. Nur Wenige wussten überhaupt von seiner Existenz, was der Grund dafür war, dass an diesem geheimen Ort alles Nichtmenschliche in Ruhe leben oder sein durfte.
Curtis, ein wirklich alter Geist, der von sich sagen konnte, fast jeden König des Landes persönlich erschreckt zu haben, machte sich zum Schlafen bereit. Er hatte sich seinen weichen Pyjama angezogen, und wollte sich gerade in seine Gemächer zurückziehen, als eine Gruppe junger, kleiner Geister aus allen vier Wänden heraus geschwebt kam und ihn freudig bedrängten.
»Curtis, du kannst noch nicht ins Bett gehen. Du musst uns noch eine Geschichte aus deinem langen Geisterleben erzählen. Wir können sonst nicht einschlafen.«
Curtis seufzte gespielt. Er hatte schon auf die Rasselbande gewartet. Sie kamen schließlich jeden Morgen.
»Also gut.« Er setzte sich in den gemütlichen Polstersessel in der Zimmerecke, entzündete den Kerzenständer, der daneben stand und scharte die kleinen Geister um sich.

Dann erzähle ich euch heute mal von meiner ersten Überfahrt in die neue Welt. Ich war damals noch ein junger, unerfahrener Geist gewesen, hatte erst wenige Jahre zuvor meine sterbliche Hülle hinter mir gelassen und wollte auf Reisen gehen.
Ich hatte noch nicht ein einziges Mal meinen Landsitz verlassen, trotzdem wollte ich dieses Amerika sehen, von dem schon so viel in den Zeitungen berichtet worden war. Es sollte so ganz anders sein, als das mir so vertraute England. Ihr könnt euch also vorstellen, dass meine Neugier schnell geweckt worden war. Ich musste nur einen Weg finden, irgendwie unbemerkt über den riesigen Ozean zu gelangen. Als Geist konnte mir natürlich kein Ticket für eine Schifffahrt kaufen.
Ich machte mich einfach auf den Weg zum nächsten Überseehafen und sah mich dort um. Schnell hatte ich das passende Schiff gefunden, dessen Ziel New York war. Perfekt.
Ich wartete den restlichen Tag ganz aufgeregt in einer dunklen Nische. Ich wollte den perfekten Moment abpassen, um unbemerkt an Bord schweben zu können.
Irgendwann, es muss mitten in der Nacht gewesen sein, waren besonders wenig Sterbliche am Kai unterwegs. Ich nutzte diesen Moment schnell aus und durchdrang die Schiffswand. Ich fand mich in einem schmalen Gang wieder, an dessen anderer Seite eine Tür neben der anderen zu sehen war. Da ich ein paar Stimmen näher kommen hörte, entschied ich mich schnell für eine der Türen, schwebte durch sie hindurch und war in eine Kabine gelangt. Hier, so entschied ich mich, wollte ich mich während der Überfahrt versteckt halten. Ich wollte mich, als weißes Hemd getarnt, an einen Kleiderbügel hängen.
Ich begab mich in den Wandschrank, schob ein paar bereits dort befindliche Kleidungsstücke zur Seite und wollte meinen Platz einnehmen, als ich etwas entdeckte, das ich an Bord des Schiffes niemals erwartet hätte. In der dunkelsten Ecke, ganz hinten rechts, stand ein echter Hexenbesen. Offensichtlich war ich hier nicht das einzige Geschöpf der Nacht, dass sich auf den Weg in die neue Welt machen wollte.
Plötzlich waren da Schritte und eine erschreckte Stimme hinter mir. Ich fuhr herum und sah mich einer Frau mit kreidebleichem Gesicht gegenüber.
»Du bist ein Geist.«, stellte sie fest.
»Und du bist wohl die Hexe, der dieser Besen gehört?«, fragte ich.
Sie lächelte mich verlegen an. Nun wurden ihre Wangen rot. »Du hast mich erwischt. Zum Glück bist du ein Geist und kein Matrose, sonst wäre ich jetzt wohl schon auf dem Weg nach draußen.«
Sie kam ein paar Schritte näher und begann zu flüstern. »Ich werde dich nicht verraten, wenn du mich auch nicht verrätst. Wir machen gemeinsam die Reise in die neue Welt, halten uns gegenseitig den Rücken frei und werden in New York wieder getrennte Wege gehen.«
Ich nickte verschwörerisch. Das war alles genau in meinem Sinne. Außerdem musste ich mich nicht die ganze Zeit im Schrank verstecken.

Die kleinen Geister hatten große Augen bekommen. »Du hast die neue Welt dann besucht?«
Curtis bejahte. »Nachdem ich alles gesehen habe, bin ich wieder nach Hause gereist.«
Er sah in eine ganze Reihe glücklicher Augen, bevor er aussprach, was niemand hören wollte. »Und jetzt geht es ab ins Bett. Die Sonne ist gerade über den Horizont gekrochen. Es ist allerhöchste Zeit, dass kleine Geister ins Bett verschwinden.«

(c) 2021, Marco Wittler

Die Idee zu dieser Geschichte bekam ich, als ich dieses wunderschöne Bild der tollen Hendrike bei Twitter gesehen habe.

https://twitter.com/fuchsfamos/status/1446092658707943424?s=20

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