Der alte Leuchtturmwärter ist ein Retter in der Not
Eine unruhige Nacht lag hinter ihm. Schon seit den Abendstunden hatte der alte Leuchtturmwärter kein Auge schließen können. Über dem Meer hatte ein sehr schwerer Sturm gewütet, der die Wellen mehrere Meter hoch gepeitscht hatte. Dazwischen hatte es immer wieder Schiffe gegeben, die es nicht mehr rechtzeitig in einen sicheren Hafen geschafft oder auch zu groß waren, um abseits der großen Städte vor Anker zu gehen. Auf sie alle hatte der Leuchtturmwärter wachsam geachtet, um im Notfall sofort Hilfe verständigen zu können. Mit seinem langen Fernrohr hatte er das Meer ununterbrochen von der einen zur andere Seite und von der Küste bis zum Horizont abgesucht. In der Dunkelheit was natürlich alles andere als einfach gewesen.
Mittlerweile hatte der Tag begonnen. Die aufgehende Sonne hatte die schweren Wolken und damit auch das Unwetter erfolgreich vertrieben. Ruhe kehrte rund um dem Deich ein. Der Leuchtturmwärter legte nun zum ersten Mal seit Stunden sein Fernglas ab, streckte sich und gähnte laut. Er konnte endlich Feierabend machen und sich zum schlafen in seine Koje verkriechen. Dort, so wusste er, wartete schon sein großer, weicher Teddybär auf ihn, ohne den er einfach nicht richtig schlafen konnte. Während er sich von seinem Sitzplatz am Fenster erhob, streifte sein Blick ein letztes Mal das Meer.
Moment. War das was? Nein, konnte gar nicht sein. Oder vielleicht doch? Irgendwas hatte im Schein eines einzelnen Sonnenstrahls kurz zwischen den Wellen aufgeblitzt. Aber es war irgendwie viel zu klein für ein Schiff.
Der Leuchtturmwärter griff noch einmal zum Fernglas und hielt es sich vor das rechte Auge, mit dem er eindeutig besser sehen konnte, als mit dem linken.
Tatsächlich. Irgendwas Metallisches bewegte sich dort im Wasser auf und ab und wurde langsam zur Küste gespült. Jetzt musste es schnell gehen. Er packte das Fernglas weg, lief die Wendeltreppe hinab und öffnete die schwere Eisentür. Er sprintete den Deich hinab und blieb erst auf seinem Holzsteg stehen, an dem normalerweise sein Boot fest gemacht war. Doch der Sturm schien es in der Nacht verschleppt zu haben.
»Verdammt! Was machen ich denn jetzt?«
Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als ungeduldig zur warten. Zum Glück hatte die Flut eingesetzt und trieb die Schiffbrüchigen schnell an die Küste. Hoffentlich waren sie auch noch an Bord und schwammen nicht irgendwo hilflos im Wasser.
»Das ist aber kein Boot und kein Schiff.« Das gekenterte … Ding, ein passenderes Wort fiel dem Leuchtturmwärter nicht ein, blieb am Steg hängen und schaukelte sanft auf den Wellen. Es hatte die Form einer Untertasse, auf der sich eine Halbkugel befand. Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er hatte da einen Verdacht, um welche Art Gefährt es sich handeln musste.
»Das ist ein Ufo.«, flüsterte der Leuchtturmwärter ängstlich. »Das ist ein Raumschiff von einem fremden Planeten und es werden Außerirdische in ihm sein.«
Er überlegte, was er nun machen sollte. War es klug, dem Fremden Hilfe anzubieten oder war es besser, sich zu verstecken? Verstecken schied aus. Der Leuchtturm stand nur wenige Meter vom Steg entfernt. Dort würden die Außerirdischen als erstes nachschauen. Also bückte sich Leuchtturmwärter und klopfte gegen das Metall.
Wie auf Knopfdruck öffnete sich ein Zugang und gab die Sicht ins Innere frei. In einem großem, gepolsterten Sessel lag ein Wesen, dass aus einem Körper mit einem Kopf, zwei Armen und zwei Beinen bestand. Selbst die Anzahl der Augen, Ohren und Nasenlöcher passte. Ein Mund rundete das Erscheinungsbild ab. Das Einzige, was es von einem Menschen unterschied, war die grüne Hautfarbe und das fehlende Haupthaar.
»Ich habe mehr Haare im Gesicht, als der Grüne auf dem Kopf.« Der Leuchtturmwärter strich sich mit der Hand über seinen langen Bart und musste lächeln. »Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?«
Der Fremde, der Leuchtturmwärter vermutete jedenfalls aus Gründen, die er nicht hätte benennen können, dass es sich um ein männliches Wesen handelte, regte sich nicht. Er schien ohnmächtig zu sein.
»Dann hole ich dich mal aus deiner kleinen Nussschale.«
Er öffnete die Anschnallgurte, zog den Außerirdischen langsam heraus und legte ihn vorsichtig auf den Steg.
»Ich bin kein Arzt. Ich könnte nicht einmal jemandem von meiner Art helfen. Bei einem Fremden kann ich also gar nicht sagen, was richtig und was falsch ist. Ich hoffe, dass es dir bald wieder besser geht.«
Er tastete nach und nach beide Arme, dann den Hals ab, bevor er seine Hand auf die Brust des unbekleideten Körpers legte. Er fand nirgendwo einen Puls, der verraten hätte, ob dieses Wesen noch am Leben war.
»Du könntest es noch einmal in meinen Füßen probieren.«, sagte plötzlich eine Stimme, die mehr wie eine Frau statt nach einem Mann klang. »Bei meiner Art schlagen gleich zwei Herzen in unseren Körpern und sie stecken in unseren Füßen.«
Peinlich berührt stand der Leuchtturmwärter auf. »Es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Ich wusste nicht, dass du eine Frau bist. Es schickt sich nicht, eine fremde Frau einfach so zu berühren.« Er wurde knallrot hinter seinem dichten Bart.
»Eine Frau?« Das fremde Wesen begann zu lachen. »Du denkst, dass ich eine Frau bin? Werden bei euch auf der Erde etwa die Menschen nach Geschlechtern sortiert? Ich versteht euch also als Mann und Frau und seid damit zufrieden?«
»Die meisten denken und fühlen wirklich so. Aber nicht alle.«
Das Fremde nickte. »Auf meiner Welt gibt es da keine Grenzen. Wir sind alles.« Es überlegte, wie sie es genau erklären sollte, damit dieser Mensch es verstehen konnte. Es konnte ihm ansehen, dass er Probleme hatte, ihre Erklärung nachvollziehen zu können. »Einfach gesagt, sind wir Mann und Frau. Wir sind Beides und auch ganz anders. Aber ist das so wichtig, das wir uns da festlegen müssten? Wir sind das, was wir fühlen. Genügt dir das?«
Es sah ihn fragend. Der Leuchtturmwärter nickte. »Es ist nicht wichtig. Jeder ist, wie er ist und wie er fühlt. Das müssen Viele von uns erst noch lernen. Was aber viel wichtiger ist, geht es dir gut oder brauchst du Hilfe?«
Das Wesen sah an sich herab, befühlte Arme und Beine. »Es scheint alles noch an seinem Platz zu sein. Ich bin nicht verletzt. Aber meinem Raumschiff geht es nicht gut. Der Sturm hat es stark beschädigt. Ich glaube, die Elektronik und die Steuerung gehen noch, aber der Antrieb ist zerstört. Ich habe leider keine Ersatzteile dabei. Eure Erdtechnik ist leider viel zu altmodisch, um damit eine Reparatur durchzuführen.«
Der Leuchtturmwärter überlegte. »Vielleicht habe ich da eine Idee. Ich werde dir schon helfen, dich und dein Raumschiff in die Luft zu bringen.«
Er lief zurück in seinen Leuchtturm und kam wenige Minuten später wieder zum Steg zurück. In einer Schubkarre lagen Holzlatten, eine Säge, mehrere Knäuel Seil und einige große bunte Bögen Papier.
Aus den Latten baute der Leuchtturmwärter ein Kreuz, um das er einen Rahmen zog. Darauf spannte er das Papier und befestigte alles mit dem Seilen am Raumschiff.
»Das soll ein Antrieb werden?« Das grüne Wesen lachte. »Ich hätte wenigstens mit einem stinkigen Verbrennungsmotor gerechnet, aber was das sein soll, verstehe ich nicht. Vielleicht ist eure Welt noch altmodischer, als ich dachte.«
Der Leuchtturmwärter bat das Wesen abzuwarten. »Wir machen keinen Dreck. Stattdessen nutzen wir saubere Energie des Windes.«
Er warf den Rahmen in die Luft. Sofort packte ihn der Wind und hob ihn ein paar Meter höher. Das Raumschiff zog er ein Stück aus dem Wasser. Es schwebte.
»Das ist ja unglaublich.« Das Wesen war beeindruckt. »Ihr seid sehr erfinderisch, ihr Menschen. Bravo. Und damit kann ich nach Hause fliegen?«
Der Leuchtturmwärter nickte. Hier unten trägt dich der Wind, im All der Sonnenwind.«
Sie gaben sich die Hände, lächelten sich gegenseitig an.
»Viel Glück auf deiner Reise. Vielleicht kommst du noch einmal in die Nähe, dann lade ich dich auf einen Tee in meinem Leuchtturm ein und werde dir Geschichte über das Meer erzählen. Ich kenne sehr viele davon.«
Das außerirdische Wesen nickte und bedankte sich. »Ich wüsste nicht, was ich ohne deine Hilfe getan hätte. Ich werde dich auf jeden Fall besuchen.«
Sie verabschiedeten sich. Das Wesen kletterte in das Raumschiff, schnallte sich an und schloss den Zugang. Dann schwebte es langsam zu den Wolken hinauf und verschwand in ihnen.
(c) 2022, Marco Wittler
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