Ein traumhafter Fang
Schon vor einer ganzen Weile war die Sonne am Meer hinter dem Horizont verschwunden. Mittlerweile wurde es immer dunkler und erste Sterne funkelten am Firmament. Während sich im nahen Zauberwald die magischen Wesen zur Ruhe betteten und ihre warmen Decken bis zur Nase herauf zogen.
Während die einen langsam einschliefen, wurde im alten Leuchtturm auf der Klippe ein Licht entzündet.
»Yumi.«, sagte eine sanfte Stimme. »Yumi, es wird Zeit aufzuwachen. Der Zauberwald wartet schon auf dich.«
Eine zierliche Hand streckte sich aus und strich über Yumis flauschige Wange.
Die kleine, graue Maus, die es gar nicht mochte, aus dem Schlaf gerissen zu werden, streckte sich und gähnte laut, bevor sie langsam die Augen zu kleinen Schlitzen öffnete.
Neben dem Bett saß eine eine wunderschöne Zauberin, deren Körper aus dem Inneren heraus zu strahlen schien.
»Hallo Lorelei.«, sagte Yumi müde. »Muss ich wirklich schon aufstehen? Es war gerade so schön. Ich hatte den besten Traum, den man sich vorstellen kann.«
Lorelei nickte verständnisvoll. »Ich weiß. Ich habe ihn gesehen. Trotzdem musste ich dich von ihm trennen. Der Zauberwald wartet schon auf dich.«
Yumi seufzte. Dann musste es wohl sein. Eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe wartete schon auf sie. Die Maus schlug ihre dicke Decke zur Seite, schlüpfte in die gelben Gummistiefel, die vor dem Bett standen und machte sich auf den Weg in die Stube. Dort hatte Lorelei bereits alles vorbereitet. Auf der einen Seite stand die Angel, auf der anderen eine große, mit Wasser gefüllte Schale, aus der geheimnisvoller Dampf hervor quoll und langsam zum Boden fiel.
Die Zauberin schob zwei an die Schale. Auf dem einen nahm sie selbst, auf dem anderen Yumi Platz. Sie blickten in den Dampf und schienen etwas darin zu erkennen.
»Das sind deine heutigen Aufgaben.«, erklärte Lorelei, wie sie es an jeden Abend sehr gewissenhaft tat. »Präge sie dir gut ein, damit du keine einzige vergisst.«
Yumi beobachtete genau und nickte schließlich. »Ich werde mein Bestes geben, damit der Zauberwald in Frieden schlafen kann.«
Die Maus stapfte mit ihren viel zu großen Gummistiefeln quer durch den Raum, griff zur Angel und marschierte aus der offenen Tür hinaus. Über eine Wendeltreppe ging es auf der Außenseite nach unten. Yumi spazierte ein paar Mal an der Klippe auf und ab, bis sie die beste Stelle gefunden hatte. Dort setzte sie sich und warf die Angelschnur aus. Gleichzeitig stand Lorelei am Fenster und sah gespannt zu.
Es dauerte ein paar Minuten, bis etwas an der Angel zog. »Es beginnt!«, rief Yumi, holte ihren Fang ein und damit ein kleines, bunt waberndes Wölkchen aus dem Meer. »Du bist aber ganz besonders schön. Ich bin mir sicher, dass du jemanden ganz besonders glücklich machen wirst.«
Vorsichtig griff sie nach dem Wölkchen und warf sie in die Höhe. Lorelei fing sie ein und brachte sie sofort in die Stube. »Hab eine gute Reise. Ich wünsche dir alles Gute.« Sie legte das Wölkchen in die dampfende Schale, in der es spurlos verschwand. Die Zauberin blickte ihr noch eine Weile nach, bis sie sicher war, dass es heil angekommen war.
Das Gesicht eines großen Monsters erschien. Hatte es bis eben noch völlig ausdruckslos gewirkt, stahl sich nun ein Lächeln auf seine Lippen. »Ich hoffe, du hast heute Nacht einen wunderschönen Traum.«
»Achtung!«, rief Yumi von draußen. »Ich habe den nächsten Traum eingefangen.« Einen Augenblick später flog der nächste Traum durch da offene Fenster und landete in Loreleis sanften Händen.
Die ganze Nacht lang versorgten die Maus und die Zauberin die kleinen und großen Bewohner des Zauberwalds mit schönen Träumen, bis es hinter dem Horizont langsam wieder heller wurde.
Yumi war wieder in den Leuchtturm gekommen. Sie stellte die Angel sorgfältig in die Ecke und gähnte müde. »Habe ich alles richtig gemacht? Habe ich die richtigen Träume eingefangen?«
Lorelei nickte zufrieden und lächelte. »Wir haben dafür gesorgt, dass der ganze Zauberwald eine ruhige, schöne und verträumte Nacht hatte.«
Yumi seufzte glücklich. »Dann freue ich mich jetzt auf ein leckeres Frühstück.«
»Nichts einfacher als das.« Lorelei räumte den Tisch in der Mitte des Raumes frei, machte eine zauberhafte Bewegung mit ihren Händen und ließ das Frühstück erscheinen.
(c) 2022, Marco Wittler
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