1493. Die Herrscherin des Waldes

Die Herrscherin des Waldes

Im tiefen Dschungel war es am Abend still geworden. Nur ein paar wenige Grillen konnte man zirpen hören. Doch plötzlich durchbrach ein lauter Kampfschrei die Ruhe.
Von einem der hohen Bäume stürzte sich eine Spinne todesmutig an ihrem Faden in die Tiefe.
»Aus dem Weg! Hier kommt die Herrscherin des Waldes.«
Die Spinne ließ sich den Wind um die Nase wehen. Das hatte sie sich schon lange gewünscht, sich bisher aber nie getraut. Jetzt hatte sie endlich genug Mut zusammen.
Und dann machte es Bumm. Die Spiele knallte gegen einen Baum, den sie übersehen hatte. »Autsch! Wie konnte das denn passieren? Der muss mir absichtlich in den Weg gesprungen sein.«
Mühsam kletterte die Spinne wieder in luftige Höhen und schwang sich ein zweites Mal in die Tiefe. »Hier kommt die Herrscherin der Waldes – zweiter Versuch.«
Wieder sauste sie durch die Luft. Wieder endete sie an einem dicken Baum.
»Hey, lass das. Das tut weh. Ich möchte doch einfach nur ein Abenteuer erleben. Ihr Bäume seid echt gemein.« Die Spinne rieb sich über die schmerzende Nase. Sollte sie einen dritten Versuch wagen? Da hörte sie eine kichernde Stimme hinter sich. Schnell drehte sie sich um und sah eine verschwommene Person, die langsam näher kam und besser zu erkennen war. Es war eine kleine Frau mit langen, roten Haaren, einem roten Hut und schwarzem Mantel.
»Du erinnerst mich an mich selbst.« Die Frau setzte sich auf den Boden und stupste der Spinne mit dem Finger auf die Nase. »Ich bin die kleine Hexe und bin früher sehr oft gegen Bäume, Wände und Laternen gestoßen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass meine Augen so schlecht sind, dass ich nichts sehen kann.« Sie nahm ihre Brille ab. Darunter kamen zum schielende Augen zum Vorschein.«
»Ui.« Die Spinne fühlte sich ganz plötzlich verstanden. Da saß jemand vor ihr mit dem gleichen Problem. Keines ihrer acht Augen war gerade. »Es gibt da nur ein Problem. Ich habe noch nie gehört, dass es Brillen mit acht Gläsern gibt.«
»Nichts einfacher als das. Ich kümmere mich darum.« Die kleine Hexe holte einen Zauberstab aus ihrer Tasche, ließ ihn ein, zwei, drei Mal in der Luft kreisen. Es machte leise Poff. Auf der Nase der Spinne entstand eine Brille, deren zwei Gläser so groß waren, dass sie jeweils vier Augen einfassten.
»Wow. Das ist ja der Wahnsinn.« Die Spinne blickte sich begeistert um. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie alles um sich herum scharf sehen. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll. Das ist das schönste Geschenk, das mir jemals jemand gemacht hat.«
Die kleine Hexe grinste. »Ich habe da schon eine Idee.«
Ein paar Minuten später schwangen sich eine Spinne und eine Hexe an einem Spinnenfaden durch den Dschungel. »Aus dem weg! Macht Platz! Hier kommen die Herrscherinnen des Waldes.«

(c) 2023, Marco Wittler

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