1540. Der Weihnachtstroll

Der Weihnachtstroll

In einer kleinen Stadt, die tief im Tal eines hohen Gebirges lag, war die Weihnachtszeit angebrochen. In den Fenstern standen Kerzen, auf den Tischen reich geschmückte Kränze und in manch gute Stube war auch schon ein Tannenbaum eingezogen. Überall auf den Straßen begegneten sich dich Menschen mit freundlichen Mienen. Manche von ihnen sangen Weihnachtslieder, mal leise, mal etwas lauter, andere pfiffen vergnügt vor sich hin. Auf dem Weihnachtsmarkt wurden Kekse gebacken, gegessen und dazu Punsch und Glühwein getrunken. Über allen Straßen lag ein Duft von Zimt, Vanille und Nelkenblüten. Ein wenig davon stieg mit einem leichten Wind hinauf bis zu den höchsten Berggipfel und hinein in eine versteckte Höhle.
»Oh, wie herrlich das duftet. Mein Nase ist ganz verzückt. Das kann nur Eines bedeuten. Weihnachten steht vor der Türe.« Der große Troll erhob sich von seinem Lager, ging zum Schrank und zog sich seine Winterjacke über, denn so hoch im Gebirge war es zu dieser Jahreszeit ganz besonders kalt.« Ich muss sofort hinunter ins Tal, sonst sind die ganzen Leckereien verputzt und ich bekomme nichts mehr davon ab.«
Er trat ins Freie, sog die frische Luft tief ins sich ein und lief los. Mit seinen großen Schritten kam er schnell voran, sprang mit Leichtigkeit über große Felsen und tiefe Spalten hinweg. Dabei brachte er den Berg zum Beben und löste immer Schneebretter ab, die donnernd ins Tal krachten.
Noch bevor er die Stadt erreichte, brach in den Straßen Panik aus. Die Bewohner schrien. Sie rannten um ihr Leben und versuchten, in ihren Häusern Schutz zu suchen. Auch der Bürgermeister forderte seine Mitmenschen dazu auf, sich in Sicherheit zu bringen. Ein Erdbeben und mehrere Lawinen, die ins Tal stürzten, konnten Menschenleben kosten.
Kurz darauf landete der große Troll mit einem letzten Sprung am Fuße des Berges. Er breitete seine Arme aus, stoppte gekonnt die Lawinen, die seinen Lauf begleitet hatten und wandte sich anschließend der Stadt zu. Mit einem Lächeln ging er zum Markt und sah sich um.
»Wo sind denn die Menschen geblieben? Warum ist denn hier nichts los? Ich bin extra von meinem Berg herabgekommen, um mit ihnen zusammen zu singen und Spaß zu haben. Und nun ist niemand hier.« Enttäuscht ließ er die Schultern hängen.
»Verschwinde von hier!«, ertönte plötzlich die Stimme des Bürgermeisters. Kaum war er wieder ins Freie getreten, kamen auch die Stadtbewohner wieder aus ihren Häusern und versammelten sich hinter ihm. »Hau ab! Du bist hier nicht Willkommen. Du versetzt uns jedes Mal in Angst und Schrecken, wenn du von deinem Berg herunterkommst. Deine Schritte sind wie Erdbeben. Deine Sprünge lösen Lawinen aus. Wir wollen das einfach nicht mehr. Bleib auf deinem Berg. Unsere Stadt ist nichts für dich.«
Der Troll wurde traurig. Während er sich eine Träne von der Wange wischte, wurde ihm das erste Mal bewusst, dass seine Größe für andere ein Problem war.
»Das tut mir leid. Ich werde euch niemals wieder belästigen und meine Höhle nicht mehr verlassen. Er drehte sich um und sah nicht mehr zurück. Langsam stieg er auf den Berg und verschwand in seiner Behausung.
Die nächsten Tage waren wie eine Qual. Immer stärkere Düfte wurden vom Wind zum Troll hinaufgetragen. Die fröhlichen Gesänge wurden ständig lauter. Die Einsamkeit in der Höhle war unerträglich.
»Ich hasse Weihnachten. Das ist die schlimmste Zeit des ganzen Jahres. Die Menschen können sich gar nicht vorstellen, was dieses Fest mit einem Macht, wenn man allein ist.«
Der Troll hatte sich ins Bett gelegt und versteckte nun seinen Kopf unter seinem Kissen, um nichts mehr mitzubekommen, was aus dem Tal zu ihm heraufkam.
Und dann klopfte es am Eingang. Der Troll schreckte hoch, blinzelte und sah einen Schatten, der sich vom einfallenden Sonnenlicht abhob. Da stand ein Mensch, der zaghaft winkte.
»Was willst du hier?« Der Troll warf dem Eindringling sein Kissen entgegen. »Ich will hier niemanden sehen. Ihr Menschen könnt mich doch eh nicht leiden. Lass mich allein.«
Aber der Mensch ließ ihn nicht allein. Stattdessen kam er langsam näher. »Ich habe keine Angst vor dir. Ich hatte nie Angst vor dir. Und ich bin traurig, weil dich meine Mitmenschen nicht leiden können. Ich habe in den letzten Tagen mit ihnen geredet, habe versucht ihnen zu erklären, dass du keine bösen Absichten hast. Aber niemand wollte mir zuhören.«
Der Troll seufzte. »Und deswegen bleibe ich hier und will auch niemanden sehen. Geh weg!«
Der Mensch blieb und setzte sich auf eine Bettkante. »Es ist Weihnachten. An Weihnachten sollte niemand allein sein. Magst du nicht vielleicht doch noch einen letzten Versuch machen, dich uns Menschen zu nähern. Wenn du nicht den Berg nach unten rumpelst, keine Erdbeben und Lawinen auslöst, werden sie merken, dass du einfach nur ein Troll bist.«
Der Troll stand auf, stampfte mit seinen kräftigen Füßen einmal durch seine Höhle. Selbst die dicken Felsen, die die beiden umgaben, begannen zu zittern. »Schau mich an. Ich bin riesig. Ich bin schwer. Ich kann nicht wie eine zarte Elfe ins Tal schweben. Wie soll das gehen? Ich habe zu schwere Knochen.«
Nun stand auch der Mensch auf. Er begann von einem Ohr zum anderen zu grinsen. »Du musst auch keine Elfe werden. Ich habe das eine viel einfachere Idee.« Er ging zum Höhleneingang, verschwand kurz um die Ecke und kam mit vier schmalen Holzbrettern um die Ecke.
»Willst du mit mir auf Stelzen ins Tal wandern? Ich glaube, das bringt nicht viel. Wir werden schon beim ersten Schritt tief im Schnee versinken.«
Der Mensch schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, nein. Das sind keine Stelzen. Das Ski. Mit denen kann man beinahe lautlos über den Schnee fahren. Du machst keinen Lärm und du erzeugst keine Erschütterungen. Die Menschen unten in der Stadt werden nicht einmal bemerken, dass du von deinem Berg herunterkommst. Sie werden sie nicht mehr vor dir erschrecken.«
Auf Holzbrettern ins Tal gleiten? Nein, das konnte sich der Troll nicht vorstellen. Das klang viel zu verrückt, um wirklich zu funktionieren. Auch mit diesen Dingern würden sie im Schnee versinken.
Na los, trau dich. Was hast du zu verlieren? Ich zeige dir, wie das geht.«
Der Mensch schnallte sich je ein Brett unter jeden Fuß, stieß sich ab und fuhr los. Mit jedem Meter wurde er schneller und versank tatsächlich nicht. Dann begann er Kurven zu ziehen, die ihn davon abhielten, eine zu hohe Geschwindigkeit zu bekommen.
Der Troll überlegte noch einmal. Sollte er es wirklich wagen? »Ach Mist. Mehr als verjagen, können sie mich eh nicht.« Also stellte er sich auch auf die Ski und machte sich auf den Weg ins Tal.
Der Wind pfiff an ihm vorbei, sauste in seinen Ohren. Sonst war nichts zu hören. Tatsächlich bleib auf dem Berg alles still. Selbst die Schneehasen, die mal hier und mal dort aus ihren Bauten hervorlugten, suchten keinen Schutz. Sie hatten einfach keine Angst mehr vor den großen Troll.
Sie erreichten den Fuß des Berges. Der Mensch bremste durch eine Fahrt im Bogen ab. Der Troll machte es ihm nach. Sie schnallten ihre Bretter ab und gingen langsam eine Straße entlang. Sie hatten den Weihnachtsmarkt auf dem Marktplatz fast erreicht, als ihnen die ersten Stadtbewohner entgegen kamen. Sie erschreckten auch dieses Mal. Aber statt einer richtigen Panik, war es dieses Mal nur ein kleines Huch. Sie hatten einfach nicht damit gerechnet, dass der große Troll plötzlich mitten unter ihnen war.
»Was willst du hier?«, ertönte auf einmal die Stimme des Bürgermeisters, der gerade verzweifelt auf einer Leiter stand und versuchte, einen Stern auf dessen Spitze zu platzieren, wofür er aber offensichtlich zu klein war. »Ich hatte dir gesagt, dass wir dich hier nicht mehr sehen wollen. Die machst uns Angst.«
Der Troll ließ die Schultern und seinen Blick sinken. Er war noch immer nicht willkommen. Doch dann fiel ihm etwas ein. Er zeigte mit seinen Armen über den kompletten Weihnachtsmarkt hinweg. »Bürgermeister, schau dich um. Alle Menschen sind noch hier. Niemand hat Angst, denn ich bin dieses ganz leise und nicht laut polternd von meinem Berg herabgekommen. Ich habe mir damit ganz viel Mühe gegeben. Ich möchte einfach nur mit euch Weihnachten feiern. Mehr nicht.«
Er ging auf den Bürgermeister zu, nahm ihm vorsichtig den Stern aus den Händen und setzte ihn mühelos auf die Baumspitze. »Außerdem gibt es Dinge, die ich dank meiner Körpergröße besser machen kann.«
Der Bürgermeister knirschte mit den Zähnen. Ihm gingen die Argumente aus. Außerdem gefiel es ihm eigentlich ganz gut, dass ihm jemand seine Aufgabe abgenommen hatte, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Er musste sich nun keine Gedanken mehr über seine Höhenangst machen.
»Ich heiße dich herzlich Willkommen in unserer Stadt. Aber bitte sei vorsichtig und mach nichts kaputt.«
Der Troll nickte. Mit einer freundlichen Begrüßung hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Mit kleinen Schritten ging er langsam auf die Mitte des Marktes zu, setzte sich auf den Boden und wartete darauf, dass die Menschen einen Kreis um ihn bildeten. Dann stimmte er eines der vielen Lieder an, die er in den letzten Tagen in seiner Höhle gehört hatte und brachte die Menschen dazu, mit ihm zu singen und Spaß am Weihnachtsfest zu haben.
Von diesem Tag an war der Troll nie wieder allein. Er baute sich ein großes Haus am Stadtrand und wurde von den anderen Bewohnern sehr geschätzt, weil er ihnen bei vielen großen Dingen helfen konnte, während er Hilfe für die Klitzekleines bekam.

(c) 2023, Marco Wittler

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