1554. Böse Buben

Böse Buben

Tief im dunklen Wald befand sich in der Mitte einer kleinen Lichtung ein noch kleinerer Teich. Sein Ufer war so dicht vom Schilf bewachsen, dass selbst aufmerksame Wanderer ihn nicht entdeckten. Und das hatte auch seinen Grund.
Wer einmal einen Blick durch die unzähligen grünen Halme warf, hätte sofort die große, alte Öllampe entdeckt, die an einem alten Baumstamm hing. Ein leichtes Glimmen war hinter dem halbblinden Glas zu erkennen.
Nun möchte sich der interessierte Leser bestimmt fragen, warum mitten im Wald eine alte Lampe über einem Teich hängt. Die Erklärung ist so einfach wie seltsam. Es handelte sich nämlich um ein Gefängnis für die bösen, ganz schweren Jungs, die ziemlich schwere Verbrechen begangen hatten.
Das Leuchten kam von ihren Hinterteilen, denn im Innern waren Glühwürmchen eingesperrt.
Siggi Schnecke kroch langsam unter dem Lampendeckel entlang und hinterließ eine eklige, schleimige Spur. Immer wieder blickte er nach unten, denn er gehörte zum Wachpersonal.
Die Glühwürmchen standen im Hof im Kreis. Sie waren mit dem Sporttraining beschäftigt und stemmten Hanteln und Gewichte. Über die Jahre hinweg hatten sie dicke Muskeln aufgebaut und waren von oben bis unten tätowiert. Sie kauten auf getrockneten Grashalmen und blickten grimmig drein. Diese Jungs musste man rund um die Uhr im Auge behalten, denn sie hatten die schwersten Verbrechen begangen, die man sich nur vorstellen konnte. Sie hatten Bienenstöcken den Honig gestohlen und in einer langen Partynacht alles aufgefuttert.
»Günni!«, rief Siggi nach unten und klopfte mit einem dicken Prügel in seine Hand, dass es durch die ganze Lampe hallte. »Kontrier dich auf dein Training. Die Blicke nach draußen bringen dich nur auf dumme Ideen. Ihr kommt hier eh nicht raus.« Die Schnecke lachte laut und setzte ihren Weg fort. »Außerdem müsst ihr fit sein. Euer Licht wird heute Abend gebraucht, wenn die Frösche ihr Weihnachtsballett aufführen. Ihr müsst die komplette Bühne ausleuchten, sonst ist das Publikum wieder sauer und wirft mit alten Tomaten.«
Die Glühwürmchen blickten grimmig zum Wärter. Einige von ihnen spuckten sogar verächtlich auf den Boden.
»Was können wir denn dazu, wenn die Quakbrüder keinen Leuchtpoppes haben? Sollen die doch zusehen, woher sie ihr Licht bekommen.« Die Glühwürmchen lachten. Günni verneigte sich vor seinen Artgenossen.
»Nicht immer so vorlaut. Ihr sitzt schneller in Einzelhaft, als ihr gucken könnte. Ich habe die Einmachgläser am Teichgrund erst Gestern neu eingeschleimt. Wird euch bestimmt gefallen, darin ein paar Tage zu verbringen.«
Die Verbrecher verstummten, wichen dem Blick der Schnecke aus und setzten ihr Training fort. Alles war besser, als in einem glitschigen Einmachglas unter Wasser zu sitzen. Kein einziges Glühwürmchen hatte dies je erlebt. Sie hatten allerdings auch keine Lust darauf, diese Erfahrung zu machen.
Der Tag verging, der Abend kam. Irgendwo hinter dem ging die Sonne unter, machte dem dunklen Firmament Platz, an dem die Sternen leuchteten, als hätte jemand mit einer feinen Nadel durch ein Zelt gestochen.
Zwischen den Schilfhalmen saßen nun die unterschiedlichsten Tiere friedlich nebeneinander. Da teilte sich der Fuchs mit dem Eichhörnchen eine Loge und der Wolf teilte sich mit dem Reh ein gemütliches Sofa und ein erfrischendes Kaltgetränk.
Die Lampe, die schon so lange an dem alten Baumstumpf gehangen hatte, wurde von einem Hirsch mit seinem mächtigen Geweih abgenommen, ein paar Mal geschwenkt und schließlich dicht über dem Wasser gehalten. Die kleinen Leuchtkäfer schalteten ihre Hintern ein und tauchten den Teich in ein geheimnisvolles Licht.
Auf dem dicken Ast eines nahen Baums begannen fünf Nachtigallen zu singen, ein Dutzend Grillen zirpten im Takt dazu.
Das Wasser begann zu brodeln. Luftblasen stiegen auf. Einen Moment später kamen die Köpfe von sieben Fröschen zum Vorschein. Sie hielten sich an den Händen, verbeugten sich so weit, dass sie für einen kurzen Moment wieder verschwanden und ernteten einen großartigen Applaus vom Publikum.
Um den Teich herum wurde es wieder still. Selbst die Musik endete, nur um kurz darauf mit einem neuen Stück wieder zu beginnen.
Augenblick entstand große Verwunderung unter mehreren langhalsigen Wasservögeln. Mit dem Schwanensee hatten sie nicht gerechnet und fühlten sich sehr geschmeichelt. »Schatz!«, rief eine Schwanendame viel zu laut und erntete dafür böse Blicke von einer Ente. »Schatz!«, sagte sie daher etwas leiser. »Ist das nicht wunderschön? Sie spielen unser Lied.« Die Schwäne hielten sich an den Händen und blickten sich wie frisch verliebt in die Augen.
Die Frösche hoben jeweils eines ihrer Beine an, spreizten es so weit ab, dass sie fast einen Spagat machten. Doch bevor sie den Tanz beginnen konnte, wurden sie in ihrer Darbietung jäh unterbrochen.
»Aus! Aus! Aus!«, rief eine laute Stimme. An der Rückseite des Teichs wurden die Schilfrohre unsanft geknickt, teilweise ausgerissen und ins Wasser geworfen. Zum Vorschein kam ein Frosch, der sich in seinem Äußeren stark von den anderen unterschied. Er war groß, geradezu riesig. Seine Arme und Beine waren von Muskeln übersät. Er war so stark, dass es beinahe so wirkte, als hätten sogar seine Muskeln noch zusätzliche Muskeln. Bei ihm konnte es sich nur um einen der größten Schurken oder einen Superhelden handeln.
»Eine Schurke? Ich? Jetzt werde ich aber gleich richtig sauer. Wer hat denn diesen Erzähler gebucht, der so einen Blödsinn erzählt? Ich bin der Mucki-Frosch und habe schon die Welt gerettet, als er noch harmlose Gute Nacht Geschichten vorgelesen hat.«
Der Mucki-Frosch machte einen kräftigen Sprung und landete mit einem lauten Platscher im Wasser, das sofort in alle Richtungen spritzte und das Publikum nassspritzte.
Die Zuschauer rasteten vor Begeisterung aus. So eine grandiose Show hatten sie noch nie gesehen. Sie ahnten nicht, dass das Auftauchen dieses Kraftprotzes gar nicht zum Weihnachtsballett gehörte.
Während sich die Teichoberfläche wieder beruhigte, tauchte ein weiteres Tier auf. Ein hochgewachsener Storch mit großer Fliegerbrille auf der Nase stakste näher und hielt direkt neben dem Mucki-Frosch. Er senkte seinen Kopf über ihn, öffnete den Schnabel, und schnappte zu. Dann warf er den Mucki-Frosch hoch zur Lampe, die noch immer vom Hirschgeweih gehalten wurde.
Der Mucki-Frosch blickte über die Lichtung hinweg und schüttelte den Kopf. Sagt mal, schämt ihr euch eigentlich nicht? Die Glühwürmchen haben vor mehreren Jahren in einer dummen Partynacht Honig geklaut. Das ist schlimm, ich weiß. Die Bienen hätten auch gern etwas von ihrer Arbeit gehabt. Aber warum muss man die Jungs für so lange Zeit einsperren? Das ist ungerecht.«
Er holte aus, schlug zu. Das Glas der Lampe zerbrach. »Es ist Weihnachten. Das sollte man Freude schenken, barmherzig sein und nicht ein paar Leuchtkäfer als Bühnenbeleuchtung benutzen. Schämt euch.«
Die Frösche im Teich schämten sich natürlich nicht. Sie sahen nur ihre Aufführung in Gefahr. »Und was ist jetzt mit dem Ballett? Das können wir unmöglich im Dunkeln aufführen. Unsere Fans werden sehr enttäuscht sein. Also sperr die schweren Jungs sofort wieder ein.«
Doch dafür war es bereits zu spät. Die Glühwürmchen verließen in diesem Moment das Gefängnis. »Jetzt werdet ihr erfahren, was passiert, wenn man uns jahrelang einsperrt und zu Scheinwerfern macht.«
Die Balletttänzer rissen panisch die Augen auf. Würden sie nun bestraft werden? Auch das Publikum hielt den Atem an. »Werdet ihr uns jetzt verprügeln?«
Die Glühwürmchen schüttelten entsetzt die Köpfe. »Was denkt ihr denn von uns? Natürlich nicht. Wir sind doch keine Schlägertruppe. Wir werden natürlich eure Aufführung perfekt ausleuchten. Was denn sonst? Das ist es schließlich, was wir am besten können.«
Unter der strengen Aufsicht des Mucki-Froschs ging der Schwanensee weiter. Schon am nächsten Morgen sollte die Waldzeitung schreiben, dass es die beste Aufführung des Froschballetts aller Zeiten war. Die zusätzliche Action Einlage hatte dem Ganzen eine ganz neue Note verliehen. Tatsächlich hatten nicht einmal die Tierreporter bemerkt, dass es sich um eine echte Befreiungsaktion gehandelt hatte.
»Was werdet ihr jetzt machen?«, fragten die Tänzer, nachdem sie geendet hatten.
»Wir kümmern uns natürlich um unsere reguläre Arbeit, der wir schon vor unserer größten Dummheit nachgegangen sind. Wir sorgen dafür, dass der Verkehr im Wald bei Nacht wieder geregelt fließen kann. Der Mucki-Frosch hat uns nämlich berichtet, dass es in den letzten Jahren vermehrt zu schweren Unfällen gekommen ist. Immer wieder stoßen große Hirsche zusammen und verheddern sich gegenseitig in ihren Geweihen. Das müssen wir mit unseren Lichtern verhindern.«
Die Glühwürmchen bedankten sich noch einmal dafür, dass sie nun nicht mehr eingesperrt waren, winkten Siggi Schnecke, der noch immer laut fluchte und verschwanden zwischen den Bäumen.

(c) 2023, Marco Wittler

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