1558. Die alte Hexe und der Weihnachtsstern

Die alte Hexe und der Weihnachtsstern

Tief im dicht verschneiten Wald, saß eine alte Hexe in ihrem windschiefen Häuschen im Schaukelstuhl und blickte durch ein halbblindes Fenster nach draußen. Das war nicht weiter schlimm, denn ihren eigenen Augen ging es nicht viel besser. Deswegen hatte sie neben einer dicken Warze auch noch eine große Brille auf der Nase.
»Bäh!«, sagte die Hexe zum wiederholten Male. »Wie sehr ich diesen Winter und seinen Schnee hasse. Ständig kriecht mir die Kälte durch den Kragen unter mein Kleid und lässt mich frösteln. Rund um die Uhr hab ich eine Gänsehaut. Hoffentlich ist das schnell wieder vorbei und es wird sommerlich warm.«
Schon dachte sie darüber nach, ihre kleine Bibliothek im Nebenzimmer zu besuchen, um einen Hexenspruch gegen den Winter zu suchen, entschied sich aber dann doch dagegen. Sie hätte dann die warme Decke und die noch wärmere Katze vom Schoß nehmen müssen. »Und das kann ich doch nicht machen. Sie schläft gerade so schön. Hört doch mal, wie niedlich sie schnarcht. Das ist doch zuckersüß.« Also blieb sie im Schaukelstuhl sitzen und ärgerte sich weiter über das schlechte Wetter.
Plötzlich ertönten kleine, leise Glocken im Wald. Durch die alten Fensterrahmen, durch auch der Wind pfiff, war das ganz deutlich zu hören.
»Nein.« Die Hexe stand nun doch auf. Die schlafende Katze fiel unsanft zu Boden und verzog sich knurrend in ihr Körbchen, in dem sie sich einrollte und sofort wieder einschlief. Nein! Das darf doch nicht wahr sein. Wie konnte ich das nur vergessen? Jetzt feiern die Menschen wieder dieses verdammte Weihnachten, an dem alle fröhlich und glücklich sind. Das ist so widerlich.«
Voller Verachtung spuckte sie auf den Boden. Die Hexe erschrak vor sich selbst, denn normalerweise machte sie dies nur vor der Tür, wo es niemanden störte. Schnell flitzte sie zur Abstellkammer, holte Eimer und Schrubber und putzte einmal quer durch die Stube, bevor sie sich weiter über das Weihnachtsfest ärgerte.
»Ich habe das alles so satt. Ich werde den Menschen dieses Mal kräftig in die Suppe spucken und ihnen Weihnachten vermiesen.« Sie unterbrach ihre Pläne, nahm Zettel und Stift zur Hand und machte sich eine Notiz. »Achtung! Nur im fremder Leute Suppe spucken und nicht wieder in der eigenen Stube.«
Nun ging sie doch noch in die Bibliothek, blätterte ein dickes Buch nach dem anderen durch, bis sie schließlich mit der Spitze ihres Zeigefingers auf eine Zeile tippte, die ihr gut gefiel. »Das ist es. Ich werde alle Menschen in der Stadt gleichzeitig verhexen, damit sie ihr ach so tolles Weihnachten genau so sehr hassen, wie ich es tue.«
Die Hexe griff zum Zauberstab und verstaute ihn sorgfältig in einer Tasche ihres langen Kleides. Sie erinnerte sich noch zu gut an das letzte Mal. Da hatte sie sich damit weniger Mühe gegeben und musste anschließend eine ganze Woche mit überlangen Hasenfüßen durch ihr kleines Häuschen laufen. Das oder etwas noch Schlimmeres wollte sie auf keinen Fall erneut erleben.
»Besen!«, rief sie laut. Augenblicklich öffnete sich die Tür der Besenkammer. Ein kleiner Handfeger erhob sich wie von Geisterhand getragen und flog in ihre Hand.
Die Hexe seufzte. »Was ist das nur für ein Tag heute?« Sie brachte den Feger zurück. »Auf dir kann ich unmöglich sitzen und in die Stadt fliegen. Was sollen denn die Leute von mir denken?« Dann griff sie zum großen Besen und trat mir ihm vor die Tür. »Hopp, hopp. Hinauf mit dir in die Lüfte.«
Der Besen ruckelte und stotterte mehrmals, bevor er wieder ruhig wurde. »Was ist denn jetzt schon wieder? Geht heute eigentlich alles schief?«
Die Hexe stieg noch einmal ab, überprüfte die Zündung, den Tank und schließlich den Ölstand. »Upsi! Hab ich wohl vergessen, rechtzeitig nachzufüllen.«
Sie holte den Zauberstab wieder hervor, wedelte mit ihm hin und her und beobachtete, wie ein kleines Ölkännchen aus der Küche geschwebt kam und ihren Inhalt in den Besen goss. »Für dich nur das Beste. Kalt gepresstes Olivenöl.« Das Kännchen verschwand. Die Hexe stieg wieder auf den Besen und flog davon.
Sie blieb dicht unter den Wolken. Hier oben würde sie bestimmt niemand entdecken. Die Menschen waren nicht an grauen Himmeln interessiert und würden deshalb bestimmt nicht nach oben schauen. »Außerdem ist hier nicht viel los. Die meisten Hexen fliegen viel tiefer und geraten umso öfter in den Besenstau.«
Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch, das schnell lauter wurde und näher kam. »Was ist denn das für ein Brummen?« Noch bevor sie sich umschauen konnte, wurde sie wie eine hilflose Feder ergriffen und durch die Luft gewirbelt. Beinahe wäre sie sogar vom Besen gefallen. Sie hatte sich gerade noch festhalten können.
»Ihr verdammten Verkehrsraudis!« Ein großes Flugzeug, in dem bestimmt mehrere hundert Menschen Platz fanden, war an ihr vorbeigerauscht, ohne zu hupen oder den Blinker rechtzeitig zu setzen. »Von Mindestabstand kann auch keine Rede sein. Ich wäre fast in die Turbine geraten.«
Die Hexe steuerte nun doch in tiefere Luftschichten. Hier konnte es zwar immer Stau geben, dafür war das Risiko eines Unfalls umso kleiner.
Die Hexe erreichte die Stadt. Sie steuerte ihren Besen direkt auf einen Marktplatzplatz in dessen Zentrum ein riesig großer Weihnachtsbaum aufgestellt war. Er war mit so vielen Kerzen und bunten Kugeln geschmückt, dass es unmöglich war, sie zu zählen oder auch nur annähernd zu schätzen. Auf seiner Spitze prangte ein goldener Stern. Um den Baum herum waren kleine Holzbuden aufgebaut, in denen Leckereien, süßer Punsch und allerlei Kunsthandwerk feilgeboten wurde. Dazwischen tummelten sich Menschen zum einkaufen, reden und singen.
»Jetzt schau sich das einer an. Die haben alle so eine widerlich gute Laune, dass es mir richtig schlecht im Magen wird. Am liebsten würde ich sofort umkehren und mich bis zum Neujahr in meinem Häuschen verkriechen.«
Die Hexe setzte zur Landung an, kam mitten zwischen den Leuten zum Stehen. Sie hielt den Besen waagerecht von sich weg und wirbelte mehrmals im Kreis um die eigene Achse, bis sie genug Platz geschaffen hatte.
»Euch werde ich schon dieses verfluchte Weihnachten austreiben. Ihr werdet es mit größter Leidenschaft hassen lernen.«
Sie holte den Zauberstab aus der Tasche, achtete vorsichtig darauf, ihn nicht auf ihre Füße zu richten und hielt ihn auf den Stern. Dieser sollte den Zauber reflektieren und über den gesamten Platz zerstreuen.
Die Hexe sprach ein paar Sätze in einer fremden Sprache, die sie selbst nicht verstand. Aus diesem Grund hatte sie auch jedes einzelne Wort sorgfältig auf einen Notizzettel geschrieben.
Ein heller Blitz entfuhr ihrem Zauberstab, raste auf den Stern zu. Entsetzte Schreie waren überall um den Baum herum zu hören. Menschen duckten sich oder versuchten, Schutz zwischen den Buden zu suchen. Der Blitz traf sein Ziel, wurde zurückgeworfen und traf die Hexe.
»Ah! Nein!« Sie schrie vor Schmerzen, ließ den Zauberstab fallen und krümmte sich auf dem Boden zusammen. »Was ist da nur passiert?«
Dann wurde es auch schon besser. Der Schmerz ließ nach. Die Hexe rappelte sich wieder auf. Verwirrt blickte sie auf ihre Notizen. »Irgendwas stimmt da nicht. Nur was?«
Sie kramte ihre Brille hervor und setzte sie verschämt auf ihre Nase. »Verdammt! Ich habe den Zettel falsch herum gehalten und den Zauberspruch rückwärts aufgesagt. Deshalb hat es nicht funktioniert.«
Oh doch. Und wie der Zauber funktioniert hatte. Denn auf einmal spürte die Hexe in der tiefe ihres Körper eine Wärme, die sich schnell ausbreitete und bis in ihre Finger- und Zehenspitzen vordrang. Sie war direkt in ihrem Herzen entstanden.
»Was passiert mit mir? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.« Sie blickte wieder zu dem goldenen Stern hinauf. Tränen der Freude bildeten sich in ihren Augenwinkeln und rannen an ihren Wangen herab. »Ich … ich …« Sie stotterte, weil sie noch nicht genau verstehen kann, was sie gerade in sich spürte. »Ich liebe Weihnachten.« Sie sah sich um, blickte in die Gesichter der Menschen. »Ich liebe Weihnachten und ich liebe, was es aus uns macht. Überall ist Liebe, Wärme, Freude, Lachen, Gemeinschaft. Wie konnte ich nur all die Jahre davor die Augen verschließen?«
Achtlos ließ sie ihren Zauberstab fallen, ging auf eine Familie zu, die zuerst erschrocken zurückwich, dann aber doch die Hexe in die Arme schloss. Ein paar Sekunden lang genoss sie die Nähe. Dann wandte sie sich einer der Verkaufsbuden zu, grinste und gab eine Bestellung auf. »Eine Runde Punsch für alle meine Freunde hier. Ich gebe einen aus.«
Von diesem Tag an verbrachte die Hexe jeden Tag der Adventszeit in jedem Jahr auf dem Marktplatz der Stadt. Sie begrüßte die Menschen, führte den staunenden Kinder kleine Hexereien vor und erzählte spannende Geschichten aus ihrem langen Leben. Dabei ließ sie es sich natürlich nicht nehmen, immer wieder aufs Neue zu berichten, wie sie gelernt hatte, Weihnachten zu lieben.

(c) 2023, Marco Wittler

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