1561. Die Regenbogendinos oder »Papa, wie kommen die wundervollen Farben in unsere Welt?«

Die Regenbogendinos
oder »Papa, wie kommen die wundervollen Farben in unsere Welt?«

Es war ein wunderschöner Wintertag. Da es in der Nacht ein wenig geschneit und gefroren hatte, glitzerte die Welt, als hätte jemand eine Decke aus Diamanten über sie gespannt.
Im Wald war ungewöhnlich still. Nicht nur die Insekten des Sommers waren verstummt, auch die anderen Tiere blieben still. Selbst von der nahen Straße war nichts zu hören. Der Schnee schluckte alle Geräusche.
Plötzlich war da ein Lachen, dass aus den Tiefen des Bauches zu kommen schien. Ein Mädchen mit roten Wangen in dicker Winterjacke lief den Weg entlang. Es zog immer wieder an Ästen, dass der Schnee auf sie herab fiel.
»Es ist so wundervoll hier. Es sieht so schön aus. Wie habe ich diese Jahreszeit vermisst.«
Sophie bückte sich, formte einen Ball und warf ihn auf Papa, der gerade aufholte. Dann stürmte sie weiter, bis sie die Bäume hinter sich ließ und auf einem Feld stehenblieb. Sie grinste breit und ließ sich fallen. Sie bewegte ihre Arme und Beine mehrmals auseinander, bis sie einen Schneeengel erschaffen hatte.
Sophie kam wieder auf die Beine. »Papa, ich brauche dein Handy. Ich möchte ein Foto davon machen.« Doch dann stutzte sie. Sie hatte auf dem Feld ein paar Blumen freigelegt, die noch immer der Kälte strotzten und und bunte Blüten trugen.
»Sie sind so wunderschön.«, flüsterte sie. »Sie sind ein Farbkleks im weißen Meer und eine eine Erinnerung an den Sommer.«

Sofie legte die Stirn in Falten. Papa wusste sofort, was nun geschehen würde.
»Papa, wie kommen die wundervollen Farben in unsere Welt?«
Papa hielt inne, kratzte sich am Kinn und dachte nach.
»Das ist eine wirklich gute Frage. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich zufällig vor Kurzem gehört habe. Sie handelt von allen Farben, die du dir nur vorstellen kannst. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Sofie strahlte über das ganze Gesicht.
»Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Papa.
Sofie lachte schon voller Vorfreude und antwortete: »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten ›Es war einmal‹.«
»Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

»Es waren einmal zwei tapfere Dinosaurier, die heldenhaft durch ein graues Tal wanderten und nichts anderes als Geröll vorfanden. Schon seit Tagen waren sie auf der Suche nach Nahrung und Wasser, hatten aber weder das eine, noch das andere finden können. Sie machten sich bereits ernsthafte Sorgen, an Ort und Stelle zu verhungern.«
Das Boo, ein kleiner Flugsaurier, zog seine Kreise durch die Lüfte und verdrehte die Augen. »Wir sind doch gerade erst aufgebrochen. Ich kann sogar ohne Fernglas unsere Höhle sehen. Du übertreibst maßlos.« Doch dann begann es zu kichern und fragte sich, wie es auf dieses Fernglas gekommen war. Da es noch niemand erfunden hatte, wusste es auch nicht, was es war und was man damit anfangen konnte.
Shorty, der kleine Langhalsdino, der dem Boo am Boden folgte, wurde aus seiner Konzentration gerissen. »Hä? Was? Achso. Nein. »Er hielt einen Stift und ein Notizbuch hoch. »Ich möchte Buchautor werden und muss meine Ideen aufschreiben, damit ich sie nicht vergesse.«
Das Boo blickte ungläubig herab. »Buchautor? Was ist das denn? Und woher hast du diese Sachen?«
Shorty zuckte mit den Schultern. »Als Buchautor schreibt man Geschichten. Das habe ich gerade erfunden, bin also der erste, den es auf der Welt gibt.«
»Dann schreib doch mal eine Geschichte über mich.« Das Boo lachte und flog weiter. Es blickte immer wieder in alle Richtungen. Nahrung war aber nicht zu finden. Alles sah so gleich aus. Die Felsen, die Bäume, kleinste Pflanzen. Selbst die Dino waren grau. Wer auf eine Brille angewiesen war, würde bestimmt nur graue Decke sehen. »Eine Brille!« Es lachte. Wieder so ein Ding, dass es gar nicht gab. »Ich wünschte, man könnte das Futter besser entdecken. Es würde mir schon sehr viel helfen, wenn es anders aussehen würde als der Rest der Welt. Ich bin mir sicher, dass deswegen schon viele Tiere verhungert sind.«
Shorty nickte und notierte sich alles. »Die beiden Abenteurer waren bereits am Ende ihrer Kräfte …« Er blickte auf und riss die Augen auf. »… als sie eine schicksalhafte Begegnung hatten, die alles verändern sollte.«
»Was schreibst du da eigentlich für komisches Zeug? Bist du sicher, dass das jemand lesen oder hören will? Und mal ganz ehrlich? Seit wann kannst du schreiben? Und was ist Schrift überhaupt?«
Shorty achtete nicht auf die vielen Fragen. Stattdessen zeigte er mit seinem Stift stumm zum Himmel.
Das Boo sah auf und erschrak. Was war dort oben geschehen? »Was ist das?«
Von einer Seite der Welt spannte sich ein riesiger Bogen hinauf und auf der anderen wieder herab. »Schau dir das an Shorty. Schau! Er ist nicht grau, wie alles andere. Er ist …« Wie sollte man es nur nennen? »Er ist bunt!«
Den Dinos standen die Münder weit auf. Nie in ihrem Leben zuvor hatten sie einen Regenbogen gesehen. Sie schauten sich an und nickten. Das mussten sie genauer unter die Lupe nehmen.
»Ich fliege schnell hin und schaue mir das an.«
»Kommt gar nicht in die Tüte.«, beschwerte sich Shorty. »Ich bin nicht so schnell. Du lässt mich nicht allein zurück.«
Das Boo seufzte, nickte und setzte sich auf den Rücken seines Begleiters. »Dann musst du mich aber tragen. Ich bin nicht so gut zu Fuß.«
Das Boo hätte zu gern auf die Uhr geblickt. Ohne diese erfunden zu haben, konnte es einfach nicht abschätzen, wie lange sie auf den bunten Bogen zugelaufen waren. Doch irgendwann standen sie unter ihm und staunten Bauklötze.
»Shorty?« Das Boo zeigte auf das Notizbuch. »Schreibst du bitte Bauklötze auf? Die muss ich demnächst auch mal erfinden.«
Shorty hörte nicht darauf. Er ging vorsichtig auf dem Bogen zu, umrundete dessen Ende und sah ihn sich ganz genau an. »Er fließt wie Wasser, als würde es regnen oder ein feiner Wasserfall von einem Berg herabstürzen. Aber da oben sind keine Wolken und kein Fels. Die bunten Farben kommen aus dem Nichts.«
Er hob sein rechtes Vorderbein, hielt es in den Bogen und lachte. »Das kitzelt.« Doch dann wurde er still und sah an sich herab. Seine grauen Schuppen färbten sich langsam. Farbe kroch von seinem Fuß die Beine hinauf, am Bauch und Rücken entlang, bis sie an der Schwanzspitze ankam.
»Ich … ich bin ganz grün.«
»Ich will auch mal.« Das Boo nahm Anlauf, erhob sich in die Lüfte und sauste durch den Regenbogen. Als es auf der anderen Seite wieder herauskam, war dunkelblau. So stellte es sich das endlose Meer vor, wenn es eine Farbe hätte.
»Das ist es. Das ist genau das, was wir brauchen. Mit dem Wasser dieses Bogens könnte man die ganze Welt einfärben. Blumen, Wiesen, Bäume. Alles könnte so wunderschön aussehen und wäre viel einfacher zu unterscheiden. Wenn wir ihn nur mitnehmen könnten.«
»Einen Moment mal. Hier wird gar nichts mitgenommen.«
Boo und Shorty blickten auf. Auf dem Wasser des Regenbogens rutschten mehrere Dinosaurier zur Erde herab. Ihre Schuppen glitzerten in allen Farben, die man sich nur vorstellen konnte. Sie landeten auf dem Boden und stellten sich schützend vor ihr Eigentum.
»Wir sind die Wächter der Farben. Unsere Aufgabe ist es, sie zu beschützen, bis wir wissen, was mir mit ihnen anstellen sollen.«
Das Boo sah sie ungläubig an. »Wie? Ihr habt hier den größten Schatz der ganzen Welt und wisst nichts damit anzufangen?«
Die Regenbogendinos schüttelten den Kopf. »Unser Anführer wusste es. Aber er ist schon vor langer Zeit verschwunden und taucht nicht wieder auf.«
Das Boo hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Es hatte eine Befürchtung, traute sich aber nicht, diese auszusprechen. Stattdessen versuchte es, den Dinos Hoffnung zu machen. »Ich bin mir ganz sicher, dass er woanders gebraucht wird, wo es eine wichtige Aufgabe zu erledigen gibt. Aber er verlässt sich auf euch, denn ihr seid erfahrene Farbhüter. Und doch habt ihr eure eigene Aufgabe noch nicht zu Ende gebracht.«
Die Regenbogendinos bekamen große Augen. »Welche Aufgabe?«
Das Boo lachte. »Ist das denn nicht offensichtlich? Ihr müsst die Welt einfärben. Macht sie bunt. Macht sie zu einem unvergleichlich schönen Ort, den wir alle lieben können. Wir werden euch auch dabei helfen.«
Die Hüter der Farben blickten sich an. Sich tuschelten. Schließlich nickten sie. »Das wird im Sinne unseres Anführers sein. Es wäre zu schade, wenn wir unseren Schatz nur für uns behalten würden.«
Und so geschah es. Das Boo packte sich Shorty, der seine Schwanzspitze immer wieder in den Regenbogen tauchte und ihn dann als Pinsel benutzte. Gemeinsam bemalten sie Bäume, Blumen und die Natur. Selbst dem Meer gaben sie seine unverwechselbare blaue Farbe.

»Und seitdem ist um uns herum alles bunt?«, fragte Sophie skeptisch.
Papa nickte. »Und deswegen können alle Lebewesen wertlose graue Steine von Essbaren Dingen unterscheiden.«
Sophie seufzte. »Das ist eine so wundervolle Geschichte.«
Papa lachte. »Und du wirst mir bestimmt jetzt sagen, dass du mir kein einziges Wort davon glaubst. So machst du das nämlich immer.«
Sophie schüttelte kräftig den Kopf. »Nein. Dieses Mal nicht. Die Geschichte ist so schön, die muss ich dir einfach glauben.«

(c) 2023, Marco Wittler

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