1559. Ein wahrer Superheld

Ein wahrer Superheld

Es war früher Nachmittag am Heiligabend.
»Es ist schon sehr seltsam, dass ein ganzer Tag nach einem Abend benannt wurde.« Der alte Geschichtenerzähler strich sich über seinen schon lange ergrauten Kinnbart und dachte nach. »Das muss doch für ein außerirdisches Lebewesen sehr seltsam und kam nachvollziehbar sein, wenn es sich einmal hierher verirrt.« Er musste schmunzeln. Er griff zu Papier und Feder und machte sich ein paar Notizen. Er hatte eine Idee für eine neue Geschichte gefunden.
»Das wird noch ein langer Tag.« Er stand vom Schreibtisch auf, ging zur Küche und streichelte unterwegs seinen Kater, der ihm bei der Arbeit immer Gesellschaft leistete. »Dann wollen wir mal beginnen. Bist du dabei Maxl? Hilfst du mir?« Der Kater blickte auf, genoss die Berührungen und maunzte zustimmend. Dann holte sich der Geschichtenerzähler einen großen Pott Kaffee und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.
Wieder griff er zur Feder. Schon vielen ihm verschiedene Figuren ein, die auf ein Außerirdisches Lebewesen treffen könnten. Darunter waren verschiedene Superhelden, denen er bereits das eine oder andere Abenteuer geschrieben hatte. »Wen könnte ich denn dieses Mal nehmen? Der dachte an einen kleinen, aber durchaus starken Frosch, der mit seinen Muskeln jeden Gegner in die Flucht geschlagen hatten und seufzte. »Das wäre schon prima, aber er hat bereits die Erde gegen Außerirdische verteidigt. Vielleicht würden sich dann meine Leser langweilen. Das möchte ich auch wieder nicht.«
Er griff zu einem kleinen, in Leder gebundenem Notizbuch und blätterte darin. Die meisten Seiten waren bereits beschriftet und beschrieben die vielen Figuren, die der Geschichtenerzähler bereits erdacht hatte.
Mit jedem Superhelden, den er sich durchlas und abwägte, ob dieser zur neuen Geschichte passen würde, veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Die Augen, die vor ein paar Minuten noch fröhlich blickten und voller Tatendrang waren, wurden nachdenklicher und trauriger.
Er klappte das Notizbuch zu, legte es zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht.
Da drin stehen so viele Helden, die Gutes getan haben. Sie haben Menschen und Tiere, teilweise die ganze Welt gerettet. Sie haben in aussichtslosen Situationen die Ruhe bewahrt und immer die richtigen Entscheidungen getroffen. Dabei haben sie Wohle aller alles riskiert.« Erneut entfuhr ihm ein lauter Seufzer. »Das ist eigentlich genau das, wovon ich selbst schon als Kind geträumt habe. Einmal mutig sein, einmal nur von allen als Held gefeiert werden, einmal ein echter Superheld sein. Und was ist aus mir geworden? Ein Geschichtenerzähler, der nur von den Abenteuern anderer schreibt und berichtet. Das klingt nicht sehr mutig.«
Er griff zur Feder und steckte sie zurück in eine Halterung. Das Papier rollte er ein und verstaute es. »Heute wird das nichts mehr mit schreiben. Jetzt bin ich zu traurig. Ich glaube, ich sollte ins Bett verschwinden.«
Der Geschichtenerzähler machte sich im Bad fertig und kroch schon bald danach unter seiner dicken Decke. So früh schlafen zu gehen war er allerdings nicht gewohnt. So fand er nicht den ins Traumland, das ihn vielleicht abgelenkt hätte.
Plötzlich war da ein Geräusch auf dem Dach. Etwas polterte, brachte die Wände kurz zum zittern. Ein Schneebrett löste sich und fiel vor dem Fenster zu Boden. Kurz wurde es wieder still, dann waren da Schritte.
»Verdammt! Einbrecher!« Der Geschichtenerzähler kam schnell aus dem Bett. Er brauchte etwas, um sich zu verteidigen. Das Einzige, was in greifbarer Nähe lag, war ein einfacher Handfeger. »Jetzt wären Superheldenkräfte wirklich von großem Vorteil.« Stattdessen hatte er Angst.
Jemand näherte sich dem Kamin, kletterte hinein und ließ sich im Innern langsam herab. »Mist! Das habe ich jetzt davon, dass ich das Feuer nicht angezündet habe, um Geld zu sparen.«
Schwere, schwarze Stiefel kamen zum Vorschein, gefolgt von einer roten Hose. »Ho, ho, ho!«
Der Geschichtenerzähler schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Das kann jetzt nicht echt sein. Ich liege bestimmt noch im Bett, bin doch eingeschlafen und habe jetzt einen ganz verrückten Traum, so verrückt, dass ich ihn mir selbst beim Schreiben nicht ausdenken könnte.« Er kniff sich in den Arm, der unangenehm weh tat. Offensichtlich war er doch wach.
Die Person im Kamin bückte sich. »Bleib wo du bist. Ich habe eine Waffe in der Hand und werde davon Gebrauch machen.«
Ein Gesicht mit langem, weißen Bart kam zum Vorschein. Ein dicker Mann kroch aus dem Kamin und grinste. »Du kannst deinen Handfeger wieder weglegen. Ich bin Santa Claus, wie du unschwer erkennen wirst. Ich werde dich weder überfallen, noch ausrauben.«
Dem Geschichtenerzähler klappte der Unterkiefer herab. Den Feger ließ er achtlos fallen. »Santa Claus? Aber … aber … ich dachte, dich gibt es gar nicht. Ich dachte, dass nur Kinder an dich glauben. Wie kann das sein?« Er machte ein paar Schritte, griff seinem Gegenüber an den Bart und zog vorsichtig daran.
»Der ist echt, so wie ich. Die Kinder haben schon Recht damit, wenn sie an mich glauben.«
»Ja, aber was machst du denn hier? Musst du nicht unterwegs sein und Geschenke verteilen? Der Sack in deinem Schlitten ist doch bestimmt randvoll und dein Zeitplan stressig genug. Und nun stehst du einfach vor mir und grinst ganz breit. Bringt das nicht alles durcheinander?«
Santa Claus zuckte mit den Schultern. »Manchmal muss man einfach Fünfe gerade sein lassen, wenn es etwas Wichtiges zu erledigen gibt.« Er kramte in den Taschen seines Mantels und holte einen alten, knittrigen Zettel hervor, der an mehreren Stellen eingerissen war.
»Wir haben dieses Jahr nach mehreren Jahrzehnten mein Büro am Nordpol renoviert. Du kennst das bestimmt. Alte Möbel raus, neue Möbel rein, tapezieren, streichen. Den Teppich haben wir gegen Laminat ausgetauscht. Nichts Besonderes. Allerdings ist uns dabei ein alter Brief mit einem Wunschzettel in die Hände gefallen, der vor einer Ewigkeit unter einen der Schränke gefallen sein muss. Wie das passieren konnte, weiß ich nicht, aber er lag dort.«
Er zeigte den Zettel vor, der Geschichtenerzähler blickte darauf und spürte, wie sich eine Träne in seinem Auge bildete. »Das kann doch gar nicht sein. Das ist meine Schrift. Das heißt, sie war es einmal. So habe ich als Kind geschrieben.«
»Und was hast du dir damals gewünscht?«
Der Geschichtenerzähler wusste es nicht mehr. Nach so langer Zeit hatte er es vergessen. Also überflog er die wenigen Zeilen und schluckte schwer. »Ich habe mir gewünscht, ein Superheld zu sein. Das ist unglaublich, denn kurz bevor du hier erschienen bist, habe ich genau darüber nachgedacht. Ich bin nämlich nie einer geworden. Ich habe nur darüber geschrieben.«
Santa Claus nickte und nahm den Wunschzettel wieder an sich. Sorgfältig faltete er das Papier und steckte es zurück in seine Tasche. »Ich bin heute hierher gekommen, um deinen Wunsch endlich zu erfüllen.« Er griff zur Hand des Geschichtenerzählers und zog ihn zum Kamin. »Lass uns gehen. Es wird Zeit, dass du ein Superheld wirst. Dein erster Einsatz wartet nämlich schon auf dich. Ein paar Menschen sind in Not und brauchen deine Hilfe.«
Der Geschichtenerzähler versuchte, einen Schritt zurück zu machen. Ihm war überhaupt nicht wohl bei der Sache. »Nein, nein. Das geht nicht. Ich bin kein Held. Ich schreibe nur. Ich kann das wirklich nicht. »
Santa Claus lachte. »Das stimmt. Du bist kein Held, aber heute wirst du einer. Vertrau mir und komm einfach mit. Die Zeit drängt.«
Der Geschichtenerzähler seufzte und nickte. Er kletterte in den Kamin und folgte Santa Claus hinauf auf das Dach, wo sie in den Schlitten stiegen und davonflogen. Es ging über die ganze Stadt hinweg. Während am Horizont bereits die Sonne versank, begannen überall die Weihnachtsdekorationen zu leuchten. Der nächste Halt war auf dem Dach der alten Bibliothek. Santa Claus stieg aus, winkte seinen unsicheren Begleiter zu sich und zeigte auf den Kaminschlot. »Runter mit dir. Hier ist der Ort, der dich zum Helden macht. Du wirst dort unten sofort sehen, was du zu tun hast. Du bist der Einzige, den ich hinschicken kann. Ich kenne keinen anderen, der über deine besonderen Fähigkeiten verfügt.«
Der Geschichtenerzähler war sich noch immer nicht sicher. Er musste sich bis an den Rand schieben lassen, dann gab er nach und kletterte in die Tiefe. Noch bevor er den ersten Fuß auf den Boden setzen konnte, dachte er darüber nach, ob er sich mit einem Ho, ho, ho ankündigen sollte. Immerhin würde er gleich einem Kamin entsteigen. Doch dann wurde ihm klar, dass er nicht Santa Claus war und sich nicht wieder dieser verhalten durfte.
Er kletterte vom Schacht in den Raum, richtete sich auf und blickte überrascht in mindestens drei Dutzend Augenpaaren. Vor ihm saßen Kinder, die ihn erwartungsvoll anblickten.
»Wer ist hier in Gefahr? Wo kann ich helfen?« Seltsam. Nichts sah nach einer Notsituation aus. Hatte ihm Santa Claus einen bösen Streich gespielt?
In diesem Moment legte sich ein dicker Handschuh auf seine Schulter. Santa Claus war ebenfalls in die Bibliothek gekommen. »Dort ist dein Platz. Setz dich auf den Stuhl. Die Kinder sind alle nur wegen dir hierher gekommen.«
»Aber hier wird doch gar kein Held gebraucht. Hier ist alles ruhig. Was mache ich hier?«
Santa Claus drückte ihm ein Buch in die Hand. Es stand der Name des Geschichtenerzählers darauf. Darin standen die vielen Superhelden, über die er sein ganzes Leben lang geschrieben hatte.
»Für diese Kinder bist schon immer ein Held gewesen, denn du hast sie mit deinen Geschichten in spannende Abenteuer entführt, sie zu unglaublichen Orten gebracht und ihnen damit viele Stunden Spaß geschenkt. Das ist etwas, das nur ein wahrer Held hätte tun können. Alles, was du dir je gewünscht hast, steckte schon immer in dir. Es hat sich nur etwas anders angefühlt.«
Santa Claus schob den Geschichtenerzähler sanft zu einem Sessel und drückte ihn hinein. »Setz dich mein Freund und lies ihnen deine Geschichten vor. Zeig ihnen, dass du der Held bist, für den sie hierher gekommen sind.«
Der Geschichtenerzähler wurde rot im Gesicht. So hatte er das noch nie gesehen. Er begann zu lächeln, öffnete sein Buch und las die erste Geschichte vor. Zwischen den einzelnen Sätzen, immer wenn er Luft holte, schaute er kurz auf, sah, wie die Kinder gebannt auf ihn blickten und keinen Ton von sich gaben. Ja, jetzt merkte er es auch. Er war nicht nur ein Geschichtenerzähler. Auf seine eigene Art und Weise war er für seine Zuhörer hier und jetzt ein Held, der mit ihnen zusammen spannende Abenteuer erlebte. Santa Claus hatte Recht behalten und den Wunschzettel, auch wenn er lange unter einem Schrank gelegen hatte, schon vor vielen Jahren erfüllt, nämlich an dem Tag, als die erste Geschichte auf einem kleinen Blatt Papier entstanden war.

(c) 2023, Marco Wittler

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