Eisfischer
Es war mitten in der Nacht. In einer kleinen, unscheinbaren Höhle, die hinter dichtem Blattwerk in einem alten Baumstumpf versteckt war, schliefen Tabaloo und seine Gefährten tief und fest. Darum bekam auch niemand mit, dass der Himmel mit seinen unzähligen Sternen plötzlich verschwand. Dicke Wolken schoben sich über den großen Zauberwald. Die Dunkelheit legte sich wie eine undurchdringliche Decke über die Welt.
Plötzlich zuckten Tabaloos große Ohren. Aufgeregt bewegten sie sich hin und her, als würden sie etwas suchen. Nun wurde auch ihr Träger wach. Er reckte und streckte sich, fuhr sich mit den Händen durch sein dichtes, weißes Fell, dass bei jeder Berührung kurz blau zu schimmern begann. Die Frage, ob das daran lag, dass seine Hände und Füße das Blau des Meeres trugen oder an etwas anderem, hatte er nie beantworten können.
Tabaloo richtete seine großen Ohren auf und lauschte. Ja. Da waren eindeutig Geräusche, sogar ganz wundervolle Geräusche, die auf die er gewartet hatte.
Er lief in die Mitte seiner Höhle, griff nach dem dicken Seil, das von der Decke hing und zog mehrere Male daran. Eine laute Glocke erfüllte den Raum. Ihr Klang drang auch in den kleinsten Winkel vor und riss alle Schlafenden aus ihren Träumen.
»Aufwachen! Es ist endlich so weit. Wir müssen uns beeilen.«
In den Wänden wurden mehrere Vorhänge zu den Seiten gezogen. Die kleinen Schnecken, die dort bis vor wenigen Augenblicken geschlafen hatten, gähnten laut und krochen langsam von ihren Schaflagern. Eine von ihnen breitete ihre Flügel aus und flog quer durch die Höhle und landete beinahe auf Tabaloos Füßen. Sie blitzte ihr Gegenüber aus dünnen Augenschlitzen an und ließ ihre laute, donnernde Stimme ertönen. »Ich will für dich hoffen, dass es nicht wieder ein falscher Alarm ist. Du hast uns schon mehrmals in diesem Monat unnötig aufgeweckt.«
Tabaloo schüttelte den Kopf und griff sich an die Ohren. »Lumi, nein, auf keinen Fall. Dieses Mal bin ich mir ganz sicher. Vertrau mir.« Er lief los, drückte mit aller Kraft das Tor auf, hinter der die Höhle versteckt lag und öffnete es. Dicke Schneeflocken fielen aus den Wolken und hatten bereits einen großen Teil des Bodens, der Kräuter und Büsche unter sich verschwinden lassen.
Nun kam auch die Schnecke und warf einen Blick nach draußen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste es doch. Du hast uns schon wieder unnötig aus den Betten geholt. Die Flocken sind viel zu dick. Damit können wir nichts anfangen. Vielleicht solltest du dir mal die Ohren waschen. In so großen Lauschern sammelt sich bestimmt auch viel Dreck.«
Aber Tabaloo ließ nicht locker. Er schüttelte kräftig den Kopf. »Nein. Ich bin mir ganz sicher.« Er drehte sich hin und her, dass seine Ohren immer wieder die Richtung änderten. »Ich kann sie ganz deutlich hören. Sie sind dort draußen. Ich bin mir ganz sicher.«
Die Schnecke ließ kurz den Kopf hängen. »Na gut. Ich kenne dich schon lange genug und vertraue dir. Wir brechen auf.« Sie drehte sich um. »Macht das Schiff klar. Wir gehen raus und versuchen unser Glück.«
Die Schnecken flogen tiefer in die Höhle und landeten auf einer dünnen Holzschale, die eigens für diesen Zweck gebaut worden war. Sie war mit reichlich Blattwerk und bunten Blüten verziert.
»Wacht auf!«, flüsterte Lumi und strich über den Rand der Schale. »Es ist so weit, wir brauchen eure Hilfe.«
Die Blüten erwachten nach und nach, gähnten und entfalteten sich.
»Seid ihr ausgeruht?«
Sie nickten und brachten die Holzschale zum Schweben.
Tabaloo sprang mit einem kräftigen Satz hinein, die Schnecken folgten ihm. Kurz darauf verließ das sonderbare Gefährt das Versteck und flog im Zickzack zwischen den Schneeflocken durch die Nacht.
Tabaloo schloss sie Augen. Er genoss den Wind, der ihm entgegen strömte und sein Fell immer wieder zum Leuchten brachte. »Könnt ihr es auch spüren? Ich bin mit jetzt ganz sicher, dass wir Erfolg haben werden. Die Königin kann sich auf uns verlassen. Wir werden sie bestimmt nicht enttäuschen. Bringt die Netze aus.«
Sie Schnecken führten ihre Fühler durch die Netzschlaufen, breiteten ihre Flügel aus uns ließen sich vom Wind treiben. Es ging zu den Seiten, hinauf, hinab, vor und zurück.
Tabaloo hingegen blieb im Zentrum der fliegenden Schale stehen, die Arme ausgebreitet. Geschickt bewegte er die Hände wie ein Dirigent. Die dicken Flocken wichen ihm aus. Die ganz kleinen, feinen, die man kaum mit dem Auge erkennen konnte, verfingen sich in den Maschen der Netze.
»Ich frage mich jedes Mal, wie er das macht.« Lumi war begeistert. »Es muss ein wahrlich großer Zauber in ihm wohnen.«
Sie durchpflügten die Luft, sammelten, bis die Holzschale beinahe unter dem Gewicht abzustürzen drohte. »Es ist genug. Wir haben, was wir brauchen. Fliegen wir zum Palast der Königin.«
Tabaloo öffnete nun zum ersten Mal wieder seine Augen. Er wirkte erschöpft. Die Beine zitterten. Das blaue Leuchten war aus seinem Fell gewichen. Er musste sich setzen, um nicht umzukippen. Die Schnecken verluden das letzte gefüllte Netz und kehrten ins Gefährt zurück.
Der Weg zum Schloss war mühselig und anstrengend. Immer wieder wurden sie von Windböen erfasst, die so manches Mal an der Ladung zerrten und sie zurück in die Luft wirbeln wollten. Doch zum Glück ging alles gut. Sie landeten vor einem großen Tor, wo sie bereits von der Eiskönigin erwartet wurden.
»Tapferer Tabaloo und ihr unerschrockenen Schnecken, endlich seid ihr gekommen. Ich habe schon sehnsüchtig auf euch gewartet.« Anerkennend und zärtlich strich sie über die Blüten am Schiff. »Habt ihr etwas für mich dabei?«
Tabaloo und Lumi stiegen aus und verbeugten sich so tief, dass ihre Nasenspitzen beinahe den Boden berührten.
»Eure Majestät, wir haben eine große Ladung feinster Eiskristalle für euch gefischt und mitgebracht. Ich bin mir sicher, dass sie von edelster Güte sind und euren Zwecken dienlich sein werden.«
Die Königin öffnete eines der Netze und griff hinein. Sie nahm die Kristalle ganz genau unter die Lupe, drehte und wendete sie, ließ einzelne von ihnen durch die Luft schweben und fallen. Schließlich nickte sie. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Ich wusste, dass ich mich auf meine treuen Eisfischer verlassen kann. Ihr seid einfach wundervoll. Jetzt kann endlich wieder arbeiten.«
Sie ließ die Ladung ins Schloss bringen und folgte ihr. Aus dem Fenster der obersten Turmkammer begann sie, die Kristalle wieder in die Freiheit zu entlassen. Sie flogen davon, umkreisten das große Gebäude und ließen sich auf den Mauern, Wänden und Dächern nieder. Es glitzerte in allen Farben des Regenbogens, als hätte jemand einen Diamanten vor eine Lampe gehalten. Das Licht verbreitete sich in alle Richtungen und brachte Helligkeit in den dunklen Wald.
»Nun muss niemand mehr Angst haben, wenn die Dunkelheit kommt. Mein Schloss wird jeden Weg erhellen und allen Wanderern den Weg an ihre Ziele weisen. Dank Tabaloo und seinen Fischern ist dies nun wieder ein Platz, an dem sich alle Wesen sicher fühlen können.
(c) 2024, Marco Wittler
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