1571. Der Bart ist ab

Der Bart ist ab

Der Schnee der letzten Wochen war endlich getaut, die dicken Wolken am Himmel waren verschwunden. Die Temperaturen hatten sich angenehm gesteigert. Der Frühling hatte den Winter vertrieben und lockte nun Menschen, Tiere und die ersten Blühpflanzen nach draußen.
Papa öffnete die Gartentür. Seine Tochter Sofie stürmte sofort an ihm vorbei. »Ist das nicht toll? Bald ist wieder alles bunt, Insekten fliegen von Blume zu Blume und die Vögel zwitschern um die Wette. Ich liebe diese Jahreszeit so sehr.«
Doch dann blieb sie unvermittelt stehen, stutzte und legte die Stirn in Falten. »Was ist denn da passiert?« Sie ging langsam auf einen der Gartenzwerge zu, die sie vor einem Jahr aufgestellt hatten und betrachtete ihn von oben bis unten. »Papa schau, hier fehlt der Bart. Ich bin mir ganz sicher, dass er im Herbst noch an seinem Platz gewesen ist.«
Sie dachte nach. Ihr Blick fiel auf die weiblichen Rundungen der Figur. »Liegt es vielleicht daran, dass es eine Zwergin ist und sie keinen Bart tragen möchte? Und tragen echte Zwerginnen überhaupt einen Bart?«
Papa kratzte sich an seinem Bart und legte den Kopf schief. »Das ist eine sehr spannende Frage. Die Antwort darauf würde mich auch interessieren.«
Sofie, die es gewohnt war, dass Papa ihr jede Frage beantwortete, bekam strahlende Augen. »Weißt du was? Mir fällt da gerade eine Geschichte ein, die ich erst kürzlich gehört habe. Der Paul hat sie mir erzählt. Sie handelt zufällig von Zwerginnenbärten. Und die werde ich dir jetzt erzählen.«
Papa, der von seiner Tochter völlig überrascht war, setzte sich schnell in einen Gartenstuhl. »Oh ja, eine Geschichte.«
»Und wie fängt eine Geschichte immer an?«, fragte Sofie.
Papa lachte und gluckste vor Freude, dass er kaum ein Wort richtig sprechen konnte. »Ich weiß es. Sie beginnt mit den Worten Es war einmal
Sofie nickte. »Ja, das stimmt. Absolut richtig. Also, es war einmal …«

Es war einmal eine tiefe dunkle Höhle, in der ein sonderbares Volk lebte. Es hatte sich schon vor langer Zeit in die Dunkelheit zurückgezogen, weil ihnen die großgewachsenen Menschen unheimlich waren und sie von ihnen nicht unabsichtlich getreten werden wollten. Außerdem gab es tief im Berg atemberaubende Schätze zu finden, darunter Silber, seltene Edelsteine kostbares Gold.
In langen Stollen und Kammern aller Größen lebten die Zwerge. Sie waren den Menschen nicht ganz unähnlich. Sie besaßen sowohl zwei Arme als auch Beine, Hatten ein freundliches Gesicht an der Vorderseite ihres Kopfes und konnten an ihren Fingern und Zehen erst bis zehn und dann bis zwanzig zählen. Der einzige Unterschied war ihre Größe. Sie gingen ihrem verwandten Volk, das an der Oberfläche lebte, nur bis zum Knie. Dafür hatten sie lange, weiße Bärte unter ihren Nasen, die oft bis zum Boden hingen. Diese wurden von allen getragen, egal ob Mann, Frau oder Zwergen, die sich weder als der eine, noch die andere fühlten. Selbst Zwergenkinder wurden schon mit einem langen Bart geboren, den sie meist zu mehreren Zöpfen geflochten bekamen.
Bilane, die Tapfere, verließ am Morgen ihre kleine Kammer, die sie in monatelanger Arbeit in den Fels geschlagen hatte und stolperte. Sie auf ihren langen Bart getreten, konnte sich an den nackten Höhlenwänden nicht festhalten und fiel auf ihre Nase, die sofort rot wurde. Sie rappelte sich wieder auf und sah sich ihren Freundinnen gegenüber, die gerade aus einem Seitengang gekommen sein mussten.
»Was ist denn mit dir los, Bilane? Bist du krank? Hast du Schnupfen? Deine Nase ist so gerötet.« Sofort hielten ihr mehrere Hände ein Taschentuch hin, die die Zwergin verschämt alle annahm und sofort ein Niesen vortäuschte. Sie wollte auf keinen Fall die anderen wissen lassen, dass sie wieder einmal über ihren eigenen Bart gestolpert war. Das geschah eh schon viel zu oft.
Glyna, die Glänzende, die vor allem dadurch auffiel, dass sie viele glitzernde Perlen in ihrem Bart trug, nahm Bilane an der Hand und zog sie hinter sich her. »Wir sind auf dem Weg in die große Shoppinghöhle auf der anderen Seite des Hauptganges. Kommst du mit? Wir brauchen für das große Zwergenfest neue Edelsteine, um unsere Bärte zu verzieren und natürlich neue Zipfelmützen. Die alten aus der Vorsaison kann ich einfach nicht mehr sehen.«
Bilane löste den Griff ihrer Freundin und blieb stehen. Shopping hatte sie schon immer gehasst. Sie konnte es einfach nicht verstehen, warum man jedes Jahr neuen Schmuck und neue Mützen brauchte. Gerade ihre eigene trug sie seit über zweihundert Jahren und flickte jedes Loch so geschickt mit ihrer Häkelnadel, dass sie nachher wie neu aussah.
»Tut mir leid, aber ich habe heute noch so viel zu erledigen. Ich bin mit der Planung einer neuen Saunahöhle beauftragt und muss mich an einen strengen Zeitplan halten. Sie hob winkend die Hand, drehte sich um und flüchtete in ihre Kammer. Mit einem lauten Knall, der bestimmt in der halben Höhle zu hören war, schlug sie die Tür hinter sich zu. Dabei stolperte sie ein weiteres Mal über ihren langen Bart.
»Uff, was ist das nur für ein schrecklicher Tag. Ich sollte dringend wieder ins Bett gehen. Es kann doch nur noch schlimmer werden.« Kurz darauf lag Bilane unter ihrer Decke, schnarchte laut und befand sich auf direktem Wege ins Traumland, wo sie noch nie gestolpert und gefallen war.

Nach mehreren Stunden erwachte Bilane und fühlte sich gleich viel besser. Während sie ein kleines Frühstück zu sich nahm, überlegte sie, ob sie vielleicht doch noch den anderen Zwerginnen zum Shoppen folgen sollte. »Einfach nur, um dabei zu sein. Ich will ja gar nichts für mich einkaufen. Ich möchte aber auch nicht, dass sie denken, ich würde nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen.«
Wie auf watteweichen Wolken lief Bilane durch ihre Kammer, trat durch die Tür nach draußen und erspähte sofort ihre Freundinnen, die gerade auf dem Heimweg waren. Sie lachten, tranken Zwergenbräu auf großen Bechern und waren mit großen Einkaufstaschen behangen. Als sie Bilane entdeckten, blieben die Zwerginnen abrupt stehen und rissen die Augen auf.
»Ist alles in Ordnung bei euch? Ihr schaut aus, als wäre euch ein Höhlengeist begegnet.«
Glyna glitt der metallene Strohhalm von den Lippen und fiel klirrend auf den Steinboden. »Bilane, was ist mit dir passiert? Wo ist dein Bart?«
Bilane verstand erst nicht doch dann griff sie erschrocken in ihr Gesicht, wo ihre Finger nur nackte Haut ertasteten. »Wie? Was? Das kann doch gar nicht sein.«
Sie drehte sich um, lief mehrfach hin und her, bis sie unter einem Tropfstein eine Pfütze fand, in der sie ihr Spiegelbild betrachten konnte. Tatsächlich war ihr Bart verschwunden.
»Ich sehe so seltsam aus, wie ein kleiner Mensch, nicht mehr wie jemand aus dem Zwergenvolke. Jetzt weiß ich auch, warum ich nach dem Aufstehen nicht mehr gestolpert bin.«
Ihr rollten mehrere Tränen die Wangen herunter. Doch dieses Mal verschwanden sie nicht im üppigen Bart, sondern platschten auf direktem Wege in die Pfütze.
»Das ist nicht schlimm.« Glyna legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin. »Wenn du dich ohne Bart wohler fühlt, dann ist das für uns in Ordnung. Wir werden dich in deiner Entscheidung unterstützen.«
Doch Bilane schüttelte den Kopf und weinte noch mehr. »Ich habe ihn mir nicht abgeschnitten. Er ist verschwunden, als ich geschlafen habe.« Sie hielt für einen Moment inne, dann wirbelte sie plötzlich herum. »Jemand hat mir meinen Bart gestohlen.« In ihren Augen blitzte es auf. »Wer auch immer in meine Kammer eingedrungen und mich so entstellt hat, wir müssen es rückgängig machen. Werdet ihr mir helfen?«
Die Zwerginnen mussten nicht lange nachdenken. Sie ließen ihre Einkaufstaschen fallen, umringten Bilane und versprachen, ihr Bestes zu geben.

Bilane wanderte in ihrer Kammer auf und ab. Sie blickte mal hier hin, mal dort hin. Sie durchsuchte alle Schränke und Kästen, blickte hinter jede Gardine und zog sogar das Bett von der Wand. Irgendwo musste es doch einen Hinweis darauf geben, wer ihr den Bart gestohlen hatte. Finden konnte sie allerdings nichts.
Irgendwann klopfte es an der Tür. Bilane fuhr erschrocken herum. »Öffnet diese Türe.«, rief jemand. Der Befehlston konnte nur eines bedeuten. Es handelte sich um einen persönlichen Wachsoldaten des …

»Der Zwergenkönig begehrt Einlass.«
Bilane lief panisch mehrmals im Kreis, überlegte noch, ob sie sich unter dem Bett verstecken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Man wusste, dass sie Zuhause war. Der König würde also nicht wieder verschwinden. Mit hängenden Schultern ging sie zur Tür und öffnete.
Noch bevor Bilane den König zu Gesicht bekam, stürmten bereits ihre Freundinnen an ihr und stellten sich schützend vor sie.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass hier eine Zwergin ohne Bart lebt.«, sagte der König so laut, dass es beinahe in der gesamten Höhle zu hören war.
»Nicht nur eine, wir alle sind bartlos.«, antwortete Glyna selbstbewusst.
Erst jetzt fiel es Bilane auf, dass auch ihre Freundinnen ganz nackt im Gesicht waren. Sie bekam rote Wangen, was man unter einem Bart niemals gesehen hätte. »Ich danke euch, dass ihr an meiner Seite steht. Aber ich muss mich dem jetzt stellen.«
Sie ging auf die geöffnete Tür zu. »Hier bin ich, eure Majestät. Wo mein Bart geblieben ist, kann ich euch allerdings nicht sagen. Er verschwand, während ich schlief.«
Nun trat auch der König aus der Gruppe seiner Soldaten hervor. Sein Gesicht war … völlig nackt. Er grinste breit. Ich habe mein Haustier, meine Agame vor ein paar Stunden mit einem neuen Gesichtschmuck erwischt.« Er hob eine große Eidechse hoch, die einen Bart trug. »Jetzt bin ich stolzer Besitzer einer Bartagame. Ich glaube, sie hat ihn von dir erbeutet.«
Er winkte einem Bediensteten, der ihm einen verzierten Holzkasten überreichte. Er öffnete den Deckel und präsentierte einen prachtvollen Bart. »Den habe ich bis vorhin noch getragen. Er soll dir gehören. Du musst dich nicht länger nackt fühlen. Das bin ich dir einfach schuldig.«
Bilane wurde nun richtig rot im Gesicht. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin euch so dankbar.« Doch dann strich sie sich über ihre glatten Wangen und grinste. »Eigentlich fühle mich ohne Bart ganz wohl. Ich habe mich jetzt ein paar Mal im Spiegel angeschaut und gefalle mir ganz gut. Ich glaube, ich werde das jetzt eine Weile so belassen.«

»Und seitdem tragen Zwergenfrauen keine Bärte mehr?«, fragte Papa ungläubig.
Sofie nickte. »So berichtet es meine Geschichte, die seit Urzeiten so erzählt wird.«
Papa begann zu lachen. »Das ist aber eine sehr tolle Geschichte. Ich glaube dir davon aber kein einziges Wort.«

(c) 2024, Marco Wittler

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