Invasionspläne
Es war dunkel. Es war still. Die Straßen der Stadt waren einsam und leer. Irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchturmuhr zur Mitternacht. Die Menschen lagen friedlich schlafend in ihren Betten.
»Ihr wisst, was ihr zu tun habt?« Der Kommandant schritt vor seiner Truppe auf und ab, sah jedem einzelnen Mitglied tief in die Augen. Sie hatten alle den Ernst der Lage begriffen, den Plan verinnerlicht. Sie hatten alle eine bestimmte Aufgabe erhalten und würden sie erledigen.
»Heute werden wir das erste Mal unser Versteck verlassen. Wir steigen aus unseren Geheimgängen auf, betreten über den Keller das erste Haus, stürmen die Treppen hinauf und werden unbemerkt in die erste Wohnung eindringen.«
Seine Miene war ernst, zeigte die Entschlossenheit des Kommandanten. »Der Stoßtrupp wird die Schlafräume suchen und die schlafenden Menschen bis zur Bewegungsunfähigkeit einwickeln. Sie werden gar nicht erst die Chance haben, sich gegen uns zu wehren.
Sobald dies geschehen ist, sucht der Rest von uns die Küchen und Kammern auf, um unsere Kameraden und Kameradinnen auf ihrer Gefangenschaft zu befreien.«
»Jawoll!« Breite Zustimmung. Niemand dachte auch nur eine Sekunde darüber nach, einen Rückzieher zu machen.
»Dann los! Wir rücken aus!«
Wäre zu dieser Zeit ein Mensch im Keller gewesen, ihm wären die Augen aus dem Kopf gefallen. Aus einem großen Pappkarton sprangen dutzende Küchenrollen hervor. Sie hatten sich mit Tarnfarbe in verschiedenen Grüntönen bemalt und sahen alle grimmig drein. Sie sprangen, sie rollten, sie überwanden die ersten Stufen und eroberten das Treppenhaus im Sturm.
»Jetzt leise! Hier geht es rein.«
Die ersten rollten sich auseinander, schoben sich unter der Wohnungstür her ins Innere. Nach und nach verschwanden sie alle auf der anderen Seite.
Der Kommandant blickte auf seine Uhr. Es verlief alles nach Plan. Die Menschen sollten nun bereits eingewickelt sein. Es wurde Zeit, der Truppe zu folgen und die anderen Küchenrollen zu befreien. Nun entrollte auch er sich, glitt elegant unter der Tür durch und verspürte den ersten Schmerz, bevor er überhaupt sehen konnte, was mit ihm geschah.
Scharfe Krallen bohrten sich in sein Papier und rissen an ihm. Er wurde gebissen und in Einzelteile zerfetzt.
»Was geht hier vor?« Der Kommandant war erschrocken, als er mehreren Katzen in die Augen blickte. Der Trupp war umzingelt. Es gab keine Fluchtmöglichkeit mehr. »Es ist eine verdammte Falle.«
Sie setzten sich zur Wehr, versuchten verzweifelt die andere Seite der Wohnungstür zu erreichen. Die Katzenpfoten waren jedes Mal schneller.
Die Küchenrollen endeten als wild verstreuter Altpapierhaufen im Flur.
Die Sonne ging auf, schickte ihre warmen Strahlen durch die Fenster herein und weckte die Menschen auf.
»Was ist denn hier passiert?« Die Katzen blickten ihre Besitzer unschuldig an, zeigten mit den Pfoten aufs Papier. »Die Küchenrollen haben angefangen. Wir sind nicht für das Chaos verantwortlich.«
So, so. Die Küchenrollen haben euch also angegriffen?«
Die Katzen nickten. Die Menschen gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden und sorgten gleich mit dem Besen für Ordnung.
Ein Kater blickte verschwörerisch die anderen an und zwinkerte. »Das war das beste Rollenspiel, das wir je veranstaltet haben. Das müssen wir unbedingt bald wiederholen.«
(c) 2024, Marco Wittler
Antworten