1658. Die Nacht der Nächte (Ninas Briefe 26)

TRIGGER WARNUNG / CONTENT NOTE:
Bitte lies meine Geschichten einmal selbst, bevor du sie deinen Kindern vorliest. Sie sind zu Halloween etwas gruseliger, auch wenn sie lustig enden. Bitte bewerte vorher, ob dein Kind die Geschichten bereits versteht, damit umgehen kann und sich nicht zu sehr gruselt.

Die Nacht der Nächte

Hallo Steffi.
Mein letzter Brief an dich ist schon eine ganze Weile her. Ich habe in der letzten Zeit so viel erlebt, dass ich einfach nicht zum Schreiben gekommen bin. Doch heute ist mir etwas besonders Krasses passiert, wovon ich dir unbedingt berichten muss.
Wenn du diesen Brief liest, ist es bereits November, doch während ich noch daran schreibe, endet gerade die Halloweennacht mit einem wunderschönen Sonnenaufgang. Aber bevor ich zu viel verrate, fange ich lieber von vorn an, denn alles begann vor ein paar Stunden.
Ich hatte mich mit meinen Freundinnen verabredet. Wir wollten zu Viert verkleidet durch die Straßen ziehen, an allen Türen klingeln und jede Menge Süßkram sammeln. Doch irgendwie kam dann doch alles anders.
Oh, jetzt habe ich es doch gemacht, dabei wollte ich gar nicht spoilern.
Ich hatte mir gerade mein Kostüm angezogen und mich von Mama schminken lassen, als es an der Tür klingelte. Mein kleiner Bruder Tommi ist natürlich sofort zur Haustür gestürmt, bevor es jemand anders schaffen konnte. Er öffnete und begann sofort zu schreien. Er hatte nämlich nicht damit gerechnet, dass er einem haarigen Monster, einer in Toilettenpapier gewickelten Mumie und dem Tod in seiner dunklen Kutte höchstpersönlich gegenüber stehen würde. Was er nicht wusste, es waren nur Leni, Maxi und Pauline.
Wir unterbrachen das Schminken, ich lief Tommi nach und begrüßte meine Freundinnen. Scherzhaft fragte ich Leni, ob sie sich schon länger nicht rasiert hätte, ob Mais Eltern denn noch zum Klo gehen können und Pauli, wie viele Menschen sie auf dem Weg hierher mit ihrer Sense ins Jenseits geschickt hätte. Seltsamerweise antworteten sie nicht. Auch auf meine Frage, wie sie mich als Horrorclown fanden, blieben sie stumm wie Fische im Aquarium.
Da fällt mir eine echt verrückte Frage ein, die ich unbedingt meinem Onkel stellen muss. Er hat nämlich auf wirklich alles eine Antwort. Unterhalten sich Fische mit Zeichensprache oder blubbern sie sich gegenseitig etwas vor?
Jedenfalls malte mir Mama noch etwas künstliches Blut ins Gesicht. Dann zogen wir auch schon los. Es ging von Tür zu Tür. Manche Nachbarn waren schon sehr genervt, weil sie kaum noch zurück aufs Sofa kamen, so oft wurde geklingelt. Trotzdem waren sie alle freundlich und sehr großzügig. Wir bekamen so viel Schoki, Weingummi und mehr, dass sich unsere Taschen in kürzester Zeit prall füllten und wir schon von einem riesigen Zuckerschock träumten.
Aber wie das halt so ist, du kennst das ja auch, muss man nach Hause gehen. Mama hatte uns eine Uhrzeit genannt, zu der ich wieder Daheim sein sollte. Pünktlich um neun Uhr abends saßen wir gemeinsam in meinem Zimmer, breiteten die Süßigkeiten auf meinem Bett aus und staunten, was wir alles bekommen hatten. Ein paar Teile mussten wir allerdings aussortieren, da uns jemand mit Schokolade überzogene Rosenkohle untergejubelt hatte. Die schmeckten voll eklig. So eine bodenlose Frechheit.
Während wir unsere Beute sortierten und gerecht aufteilten, fiel mir etwas auf. Noch immer hatten meine Freundinnen kein einziges Wort gesprochen. Das hatte ich den ganzen Abend über nicht bemerkt, weil ich doch immer selbst so viel quatsche. Doch nun?
Ich stellte ihnen Fragen, sie blieben stumm. Stattdessen begannen die Drei nach und nach den ersten Süßkram zu futtern. Nun ja, zumindest Leni und Maxi. Pauline hingegen stand vom Bett auf und ging zum Fenster, dass sie ungefragt öffnete.
Sofort zog ein kalter Wind herein und ließ mich frösteln. Was aber danach geschah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Kaum war der Weg frei, flog eine Fledermaus herein, die auf meinem Stuhl landete und sich dort in ein Vampirmädchen verwandelte. Ihr folgte ein Skelett, das unmöglich ein Kostüm sein konnte. Zuletzt wurde ein Geist sichtbar, der nicht den Weg durch das Fenster nahm, sondern einfach vor meinen Augen auftauchte, als wäre er gebärt worden. Das heißt, es war eigentlich kein Geist, sondern ein Geistermädchen, das auf seinem Kopf eine rosa Schleife trug. Ihm Gegensatz zu allen anderen, sprach es mit mir.
„Du musst keine Angst vor uns haben. Wir mögen Geschöpfe der Nacht sein und die meisten Menschen fürchten sich vor uns, dabei wollen wir einfach nur mal Halloween feiern, Süßes gegen Saures eintauschen und jede Menge Spaß haben. Danke, dass wir dich begleiten durften.“
In diesem Moment wurde mir einiges klar. Draußen auf der Straße hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, als würde mich jemand beobachten. Ich hatte gespürt, dass jemand immer in unserer Nähe war. Ich erfuhr, dass jedes Lüftchen, dass n mir vorbei gezogen war, vom Geistermädchen stammte. Die Vampirin war im Schutz der Dunkelheit über uns geflogen, während sich das Skelett wunderbar im Astwerk von Bäumen und Sträuchern verstecken konnte. Sie alle waren mit mir durch die Stadt gezogen.
Es gruselte mich. Mir kam der Gedanke in den Kopf, was wohl mit meinen echten Freundinnen geschehen war, die nicht bei mir geklingelt hatten.
„Deinen Freundinnen geht es gut.“, sagte das Geistermädchen, das sich mittlerweile als Roselotte Brombeergeist vorgestellt hatte, mich aber darum bat, sie Lotti zu nennen. „Alle Drei haben verschlafen. Wir können uns überhaupt nicht erklären, warum das passiert ist.“ Sie zwinkerte verschwörerisch. „Sie werden Morgen früh aufwachen, sobald der erste Hahn auf dem Mist kräht und sich an nichts erinnern.“
Ich nickte und war so froh. Trotzdem nahm ich mir sofort nach Sonnenaufgang anzurufen.
Wir blieben noch eine ganze Weile in meinem Zimmer sitzen und genossen das leckere Naschwerk. Von Lotti erfuhr ich, dass die sechs so unterschiedlichen Freunde schon lange davon geträumt hatten, einmal in ihrem Leben nach dem Tod, Halloween wie Menschenkinder feiern zu können. Sie hatten sich allerdings nie getraut. Zu groß war die Angst gewesen, sich nicht menschlich genug zu verhalten oder mit anderen reden zu müssen. Dass fünf von ihnen immer noch schwiegen lag nämlich nicht daran, dass sie nicht sprechen konnten, sie waren einfach nur zu schüchtern. Dabei musste ich natürlich ein klein wenig grinsen, denn du weißt, ich bin das totale Gegenteil.
Irgendwann kam dann doch der Moment des Abschieds. Wir drückten uns gegenseitig, bedankten uns für die schöne Zeit. Dann kletterten sie nach und nach aus dem Fenster. Zuletzt verblieb das Monster. Es hatte schon einen Fuß auf dem Fensterbrett, als es sich ein letztes Mal zu mir umdrehte und schüchtern lächelte. „Danke!“, sagte es. Trotz seines dichten rosa Fells, konnte ich erkennen, dass seine Wangen knallrot wurden. „Danke für alles. Du bist eine tolle Freundin. Bleib bitte immer so wie du bist, Nina.“ Und schon war es in der Nacht verschwunden.
Und jetzt weißt du, warum ich noch immer in dieser Nacht wach bin, warum ich kein Auge zumachen konnte. Mittlerweile ist die Sonne komplett aufgegangen und ich habe meine Freundinnen angerufen. Leni, Maxi und Pauline geht es wirklich gut. Sie haben sich tausend Mal dafür entschuldigt, dass sie unseren Halloweenabend verschlafen haben.

Liebe Grüße
Deine Nina

P.S.: Wenn du nächstes Jahr mit deinen Freunden zu Halloween durch die Straßen ziehst und das Gefühl hast, irgendwas stimmt nicht, dann halte die Augen auf. Vielleicht sind es ebenfalls echte Geschöpfe der Nacht.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*