1659. Des Kaisers neuer Spiegel

Des Kaisers neuer Spiegel

Der alte Kaiser stand unsicher in seinem Ankleidezimmer. So viele schöne Mäntel, Röcke, Westen und mehr hingen fein säuberlich auf Bügeln und in Schränken. Sie bestanden aus teuerstem und feinstem Zwirn, waren von den besten Schneidern des Landes genäht worden. Und trotzdem beschlich ihn das Gefühl, nichts zum anziehen zu besitzen.
„Ich kann unmöglich jeden Tag in den selben Kleidern vor die Tür gehen. Was sollen denn meine Minister und die Staatsgäste aus fremden Ländern von mir denken? Sie werden glauben, dass ich bettelarm bin, wenn ich immer wieder gleich aussehe.“
Es wäre ein Leichtes gewesen, einen Schneider zu beauftragen oder Hosen und Röcke aus der Ferne zu herbeischaffen zu lassen, wenn da nicht diese Sache neulich gewesen wäre.
Oh, wie hatte sein Volk ihn ausgelacht, als er mit den neuesten Kleidern, die nur schlaue Menschen sehen können sollten, durch die Straßen der Hauptstadt flaniert war. Viel zu spät war dem Kaiser aufgefallen, dass er auf einen äußerst raffinierten Trick hereingefallen war. Aber da war er schon eine ganze Weile nackt unterwegs gewesen und hatte sich zum Gespött vor seinem Volk gemacht. Nun traute er niemandem mehr.
Lustlos ging er durch den Raum, wählte einen Mantel aus, in dem er sich zumindest wohler fühlte, als einer seiner Berater den Raum betrat und eine große Kiste hereinbringen ließ.
„Warum betritt er ungefragt meine Gemächer und was bringt er mir?“ Der Kaiser war zunächst erzürnt, wollte den Berater bestrafen lassen, doch dann siegte die Neugier.
„Es ist ein neuer, größerer Spiegel, in dem ihr Euch und eure Kleider begutachten könnt, eure Majestät. Vorbei sind die Zeiten, in denen man Euch etwas vormachen kann. Hier drin werdet ihr jedes einzelne Detail erkennen können.“
Wieder öffnete sich die Tür. Ein Diener trat ein, verbeugte sich und legte eine Schachtel ab. „Euer neuer Mantel.“, erklärte der Berater. „Mir war bewusst, dass Ihr nicht wissen werdet, in welchen Kleidern ihr den heutigen Staatsakt begehen werdet. Darum habe ich bereits vorgesorgt.“
In den nächsten Minuten wurde schnell gearbeitet. Der alte Wandspiegel wurde abgenommen, fortgebracht und durch den Neuen ersetzt. Währenddessen hatte sich der Kaiser in den neuen Mantel helfen lassen, nicht ohne selbst vorher den Stoff genau unter die Lupe genommen zu haben. Dieses Mal konnte er jede einzelne Faser sehen.
„Nun denn, man möge mich vor den Spiegel führen. Ich bin bereit, mein Antlitz zu begutachten. Ich bin gespannt, wer heute der Schönste im ganzen Lande ist.“ Er musste kichern. Schon oft hatte er diesen Spruch aufgesagt und sich dabei an sein Lieblingsmärchen Schneewittchen erinnert.
Der Berater zog schob seinen Herrn zur Wand und öffnete mit dem Zug an einem geflochtenen Seil einen Vorhang aus rotem Brokat.
Augenblicklich gefror das Lächeln des Kaisers. Seine Mundwinkel fielen nach unten ab. Er legte die Stirn in Falten und den Kopf zur Seite.
„Welch Schabernack will man mir hier spielen? Bin ich nicht schon genug gestraft worden, indem man mich nackt durch die Straßen getrieben hat? Ich sehe aus wie eine alte, schrumpelige Kartoffel. Das kann doch gar nicht sein.“
Der Berater warf einen schnellen Blick zwischen den Kaiser und dessen Ebenbild hin und her. „Das ist die Besonderheit eures neuen Spiegels, eure Majestät. Er zeigt euch nicht nur das, was jeder sehen wird. Er zeigt euch auch jede noch so kleine Falte, jedes Pickelchen und jede Warze, derer man mit bloßem Auge sonst nicht habhaft würde. Stellt euch nur mal vor, wie praktisch das ist. Nun könnt ihr euch professionell schminken lassen und jede noch so kleine Unreinheit verdecken lassen, die euch in wichtigen Besprechungen sonst schaden könnte.“
Der Kaiser ging ein paar Schritte vor, dann wieder zurück. Welch Wunderwerk modernster Erfinderkunst dieser Spiegel doch war. Er war zugleich ein Vergrößerungsglas, und er war einer der Ersten, die davon profitieren durften.
„Lasst nach meinem Schminkmeister schicken. Ich werde seine Dienste benötigen. Er möge sich auf schnellstem Wege in meinen Gemächern einfinden und die beste Arbeit seines Lebens abliefern.“
Der Schminkmeister schien schon vor der Tür gewartet zu haben, denn kaum einen Augenaufschlag später stand er schon bereit. Während der Vorhang wieder vor dem Spiegel geschlossen wurde, trug er sein Schminkwerk Schicht um Schicht im Gesicht des Kaisers auf. Er puderte, er cremte, er nutze mehr Farben, als für die Gestaltung eines Regenbogens nötig waren, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit zurücktrat, seinen Herrn begutachtete und nickte. „Es ist vollbracht!“
Der Berater öffnete nun wieder den Vorhang und ließ den Kaiser einen Blick auf sein Spiegelbild werfen. Aus der schrumpeligen Kartoffel war der schöne Mann geworden, den er sein Jahrzehnten so gut kannte. „Ich bin zufrieden. So kann ich unter die Leute gehen und die Könige der Nachbarländer begrüßen. Jetzt wird die Konferenz ein Erfolg werden. Es kann nicht anders sein. Meine Schönheit wird sie nämlich alle blenden und vor Neid erblassen lassen.“
Der Kaiser verließ seine Gemächer, ließ sich von seinem Gefolge durch die breiten Gänge begleiten und betrat den großen Audienzsaal. Gebieterisch ließ er sich auf seinem goldenen Thron nieder und sah in die Runde.
Er hatte mit begeisterten Blicken gerechnet, doch stattdessen stand in den Augen der Könige und Bediensteten blankes Entsetzen neben größter Schadenfreude.
„Was ist da passiert? Warum schaut der Kaiser aus wie eine Mischung aus Harlekin und Hofnarr?“
Die Frage war nur flüsternd gestellt worden, trotzdem hatte der Kaiser sie vernommen. Entsetzt ließ er sich einen Handspiegel reichen und blickte nun in eine bunt gefärbte und entstellte Fratze, die ihm nur noch entfernt ähnlich sah.
„Aber wie kann das sein? Wie ist das möglich? In meinen Gemächer sah ich doch ganz anders aus.“
Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er warf den Hand Spiegel zur Seite, verließ den Saal und rannte zurück ins Ankleidezimmer. Ungewohnt wütend riss er den Vorhand ab und erkannte seinen Fehler. Was er vor sich sah, war kein Spiegel. Es war ein Wandbild, ein Gemälde seiner selbst. „Und die Kartoffel?“ Er drückte mit der Hand gegen den Spiegel. Dieser schwang herum. Auf der Rückseite kam sie zum Vorschein. Eine alte, runzlige Kartoffel, die auf einem majestätischen Körper thronte. Eine schreckliche Erkenntnis wurde ihm gewahr.
„Und wieder einmal haben sie mich hereingelegt Und bloßgestellt.“

(c) 2024, Marco Wittler

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