Eine lange Reise durch den Zauberwald
Da vorn, zwischen den beiden Büschen, die unter den Bäumen wachsen, befindet sich ein ganz besonderer Ort. Wenn du die Augen schließt, an Frieden, Freude und Freundschaft denkst, brauchst du nur einen Schritt machen und findest dich mitten im Zauberwald wieder. Hier leben ganz wundervolle Geschöpfe, jedes auf seine eigene Art und Weise einzigartig. Sie sind kleine, zottelige Monster in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann. Manche habe kleine, andere ganz große und spitze Zähne. Während die einen ihr Fell ordentlich bürsten, laufen die anderen ganz zottelig durch die Straßen. Auf dem Kopf tragen sie Hörner, Mützen und manchmal auch Croissants, so seltsam das auch klingen mag. In ihrer unendlichen Vielfalt verbindet sie aber eines: sie gehen respektvoll miteinander um und haben dabei ganz viel Spaß.
Ein Bewohner des Zauberwalds war ein kleines blaues Monster mit ganz besonders zotteligem Haar. Das lag vor allem daran, dass es vor einigen Wochen seine Bürste verloren hatte. Sie war im Garten ins hohe Gras gefallen und nie wieder aufgetaucht.
»Ach, wenn ich doch nur eine neue Bürste hätte.« Das Monster blickte in den Spiegel, legte die Stirn in Falten und tastete über seinen Bauch. Vorsichtig ließ es seine Finger in das dichte Fell gleiten und holte eine Schreibfeder daraus hervor. Es kicherte. »Ach, da bist du. Ich habe schon seit Tagen nach dir gesucht.« Und dann zog es zwei Bleistifte, ein Lineal und einen Kaffeelöffel aus ihren Verstecken. »Es ist eindeutig. Ich brauche unbedingt eine neue Bürste. Mein Fell verhält sich schon wie ein schwarzes Loch. Es verschlingt einfach alles, das ihm zu nah kommt.«
Das kleine blaue Monster seufzte. Bürsten gab es nur ganz selten im Laden in der Stadt zu kaufen, und wenn sie doch mal vorrätig waren, musste man ganz viel für sie bezahlen. Das lag daran, dass sie an einem versteckten Ort, ganz tief im Zauberwald auf einem Baum wuchsen.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich auf die Reise zu machen. Hoffentlich finde ich den Weg und verlaufe mich nicht wieder.«
Es dachte zurück an diesen schicksalhaften Tag, als es direkt hinter der Monsterschule falsch abbog, in einem kleinen Café landete und vom leckeren Kuchenduft so abgelenkt wurde, dass es seine Suche vergessen hatte. »Das passiert mir kein zweites Mal. Ich mache einfach einen Umweg, halte mir die Nase zu und werde auch mit niemandem sprechen.«
Das Monster schnappte sich seinen Rucksack und packte ein paar Brote als Wegzehrung ein. Beinahe hätte es auch ein paar Socken und Unterhosen zum wechseln mitgenommen, bis ihm einfiel, dass Monster wegen ihres bunten Fells niemals etwas anziehen mussten.
Es verließ sein kleines, windschiefes Haus und machte sich auf den Weg. Mit einer Wäscheklammer auf der Nase ging an der Backstube und dem Obstladen vorbei, direkt in den Wald hinein. Dort blieb es erst einmal stehen.
»Hm, muss ich nach rechts, links oder doch geradeaus? Vielleicht geht der Weg auch einmal im Kreis oder in eine ganz andere Richtung. Ach, hätte ich ihn mir doch nur gemerkt.«
Das Monster seufzte, nahm die Klammer von der Nase und ging nach links.
Kaum hatte es seine Wanderung begonnen, strömten fremde, Düfte von allen Seiten heran und betörten die Nase. Geräusche vom Wind, von kleinen und großen Tieren waren überall zu hören. Zu sehen war allerdings niemand.
Plötzlich begann der Boden zu beben. Die Bäume zitterten, das Laub begann zu rascheln, während die vielen Tiere in ihren Verstecken verstummten. Zwei Bäume bogen sich zur Seite und ein große, lange Nase, der ein noch größerer, brauner Pelz folgte. Ein riesiger Ameisenbär kam im Laufschritt herbei geeilt. Als er das kleine Monster entdeckte, bremste er ab, wirbelte dabei Unmengen Erdreich und Staub auf und kam nur wenige Zentimeter vor ihm zum stehen.
»Hey, was machst du denn da? Du bist mir im Weg. Beinahe hätte ich dich über den Haufen gerannt.« Erschrocken riss der Ameisenbär die Augen auf. Er senkte seinen Kopf herab, seine Stimme wurde leiser. »Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich sollte mich etwas rücksichtsvoller durch den Wald bewegen.«
Das kleine Monster lächelte und tätschelte seinem großen Gegenüber die Nase. »Ist schon in Ordnung. Mir ist nichts passiert. Ich war eh gerade in Gedanken, weil ich mal wieder den Weg vergessen habe. Ich suche nach dem Haarbürstenbaum. Der muss irgendwo in dieser Richtung stehen.« es drehte sich einmal im Kreis und lachte.
Der Ameisenbär nickte. »Ich kenne den Baum. Ich bin erst vor Kurzem an ihm vorbei gelaufen. Ich meine sogar, mich noch an den Weg erinnern zu können. Wenn du magst, bringe ich dich hin. Steig auf meinen Rücken und halte dich gut fest, dann sind wir in Windeseile an deinem Ziel angekommen.«
Das klang nach einem großartigen Abenteuer. Das kleine blaue Monster stieg auf, zog leicht an den Haaren seines neuen Gefährten und versicherte sich, dass ihm dies keine Schmerzen bereitete. »Mach dir darüber keine Sorgen. Die vielen Büsche und Bäume stechen mich ununterbrochen in die Seiten. Dagegen ist das Ziehen an meinem Fell eine wahre Wohltat.«
Ab ging die Reise. Der Ameisenbär lief los und steigerte immer weiter sein Tempo, während das Monster auf seinem Rücken vor lauter Spaß jubelte, dass man es noch bis in die Straßen der Stadt hören konnte. Doch da fiel ihm etwas ein. »Wir sollten vielleicht etwas langsamer machen. So eilig brauche ich die Bürste nicht. Ich möchte nicht, dass wir unbemerkt jemanden überrennen, verletzen oder einen unschuldigen Baum umknicken.«
Der Ameisenbär wurde langsamer und schritt nun sehr viel gemächlicher durch den Zauberwald. Auf dem Weg erzählten sich die so ungleichen Gefährten von ihren Leben, ihren Hobbys und natürlich ihren Reisen. Sie sprachen auch über den Zauberwald und welche Abenteuer sie bereits in ihm erlebt hatten und welchen Wesen sie begegnet waren. Stunde um Stunde verging, ohne dass es ihnen langweilig wurde, bis der Ameisenbär stehenblieb.
Sie hatten eine kleine Lichtung erreicht, die so unscheinbar war, dass ein unaufmerksamer Wanderer an ihr vorbei marschiert wäre, ohne sie zu entdecken. In der Mitte einer grünen Wiese, die über und über mit bunten Blümchen bewachsen war, stand ein einzelner Baum, der sonderbarer nicht hätte sein können. Wo man sonst Äpfel, Birnen oder anderes Obst erwartet hätte, wuchsen hölzerne Haarbürsten zwischen dem üppigen Laub. Die einen waren groß, die anderen etwas kleiner. Manche hatten weiche, andere wiederum harte Borsten.
»Hier sind wir richtig!« Das kleine blaue Monster war begeistert. Es stieg vom Ameisenbär herab, wollte sich gerade eine Bürste pflücken, als ein zweites, rotfelliges Monster hinter dem Stamm hervorkam. Es hatte krumme, schiefe Zähne im Gesicht, von denen einer schon ausgefallen war. In der Lücke steckte ein langer Grashalm, der lustig im lauen Wind wehte. Vor einem Auge steckte ein Monokel, mit dem man besser lesen konnte und auf dem Kopf ein Zylinderhut. »Was bist du bereit, für eine meiner Bürsten zu bezahlen?«
Das kleine blaue Monster blieb stehen, stutzte und zog die Schultern hoch. »Ich habe keine Ahnung. Hier sind keine Preisschilder. Außerdem habe ich kein Geld dabei. Ich wusste nicht, dass ich etwas dafür bezahlen muss.«
Das rote Monster schüttelte den Kopf und lächelte. »Wer hat denn von Geld geredet? Das ist nichts wert. Ich spreche von einer Währung, die viel wichtiger ist. Schenke mir die Erinnerung an einen deiner schönsten Momente in deinem Leben. Teile sie mit mir und ich belohne dich mit einer Bürste meines Baums.«
Das kleine Monster zögerte, dachte nach. Was war den bloß die schönste Erinnerung seines Lebens? Es hatte keine Ahnung.
»Pst!« Der Ameisenbär schubste es mit seiner Nase von hinten an und zwinkerte ihm zu, als es sich umdrehte.
»Ja, genau. Das ist es! Ich weiß, welche Erinnerung für mich ganz besonders ist. Ich bin in den Zauberwald gegangen und habe mich verirrt. Ich wusste nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte, als plötzlich alles um mich herum zu beben und zittern begann.«
Die drei setzten sich in das weiche Gras. Die Geschichte einer langen Reise und zweier so ungleichen Gefährten wurde erzählt und zauberte dem roten Monster ein freudiges Lächeln auf sein Gesicht. »Und so lernte ich einen ganz besonderen Freund kennen, den Ameisenbären.«
Das rote Monster nickte zufrieden. Es stand auf, pflückte eine Bürste vom Ast seines Baums und überreichte sie. »Die hast du dir verdient. Und nun wünsche ich euch eine schöne und sichere Heimreise.«
Das kleine blaue Monster stieg wieder auf den Ameisenbär. Sie verabschiedeten sich und setzten ihren Weg fort. Sie verließen die Lichtung, wanderten ein paar Schritte durch den Wald und traten auch schon wieder aus diesem heraus. Sie waren zurück in der Stadt.
»Potzblitz! Das ging aber schnell, dabei waren wir so lange unterwegs. Wie ist das nur möglich?«
Der Ameisenbär errötete. Er senkte den Kopf und lächelte verlegen. »Weißt du, ich bin mein ganzes Leben lang allein im Wald unterwegs. Alle Tiere sind viel kleiner als ich und haben deswegen Angst. Sie gehen mir aus dem Weg und verstecken sich. Aber du bist anders. Du war offen für mich und bist mein Freund geworden. Deswegen bin ich mit dir eine ganze Weile im Kreis gelaufen. Ich wollte nicht, dass unsere gemeinsame Zeit zu schnell zu Ende geht.«
Das kleine blaue Monster schmiegte sich an den Ameisenbär. »Da hast du mich aber ganz schön angeflunkert, mein Freund. Ich bin aber glücklich, dass du es getan hast. So konnten wir uns gegenseitig kennenlernen.«
Von da an unternahmen die beiden jeden Tag neue Reisen durch den Zauberwald. Mal blieben sie in der Nähe, mal ging ganz weit in die Ferne.
(c) 2025, Marco Wittler
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