Der Zahn ist weg
»Alarm!«
Im Kontrollzentrum des Weihnachtsmanns war das Licht von hellem weiß zu grellem Rot gewechselt. Sirenen ertönten aus großen Lautsprechern. Die Weihnachtswichtel, die hier am Nordpol das ganze Jahr über Dienst taten, sprangen von ihren Stühlen hoch und liefen aufgeregt hin und her.
»Das hat es doch noch nie gegeben. Was machen wir denn jetzt?« Verzweifelt suche der Oberwichtel nach dem Ordner, der die Abläufe im Alarmfall beinhaltete, konnte ihn aber nicht finden. »Wir müssen sofort den Boss informieren. Wir brauchen ihn.«
Es dauerte eine Weile, bis sein Gesicht auf dem großen Bildschirm an der Wand zu sehen war. Santa Claus hatte sich für seine Urlaubsreise die weit entfernte Weihnachtsinsel ausgesucht und lag nun mit einem leckeren Smoothie am Strand und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
»Was ist denn Zuhause los? Habt ihr was kaputt gemacht? Ist der Schlüssel zur Weihnachtswerkstatt verloren gegangen oder hat Rudolph mal wieder zu spät bemerkt, dass die Klopapierrolle leer ist?«
»Boss, wir haben hier ein ernstes Problem. Zum ersten Mal ist der Alarm losgegangen. Wir wissen nicht, was wir machen sollen.«
Santa Claus richtete sich auf, nahm das Handy näher zum Gesicht. »Ihr müsst den grünen Knopf drücken. Dann zeigt uns der Computer, was passiert ist. Ich hoffe, wir bekommen das geregelt.«
Der Wichtel nickte und drückte den genannten Knopf. Der große Bildschirm teilte sich in zwei Hälften. Santa wurde nach links verschoben, rechts kam ein kleines Mädchen zum Vorschein, das gerade das Badezimmer betrat.
Paula schnappte sich den Hocker und stellte ihn auf seinen Platz. Sie stieg darauf und konnte nun problemlos in den Spiegel über dem Waschbecken blicken. Mit ihrer Zungenspitze drückte sie vorsichtig gegen den Zahn, der sich bedenklich vor und zurück bewegte.
»Kann nicht mehr lange dauern. Der muss heute raus. Dann kann die Zahnfee endlich mal zu mir kommen. Alle anderen Kinder waren schon vor mir dran.«
Paula hielt inne. Sie hörte ein Auto, das gerade in der Einfahrt Halt machte. Sofort stürmte sie zum Fenster, öffnete es und blickte nach unten. Papa stieg gerade aus.
»Papa, Papa, Papa! Schau her, mein Wackelzahn ist fast draußen. Heute ist es endlich so weit.« Mit großer Begeisterung tippte Paula auf ihren Zahn, der sich genau in diesem Moment löste und herunter fiel. Entsetzt riss sie die Augen auf und versuchte, ihren wertvollen Besitz aufzufangen. Dennoch glitt er ihr durch die Finger und verschwand in einem dichten Busch.
»Oh nein! Er ist weg. Die Zahnfee wird ganz enttäuscht sein und mich nicht besuchen kommen. Das ist die größte Katastrophe meines ganzes Lebens.«
Sie begann dicke Krokodilstränen zu weinen und konnte sich nicht mehr beruhigen.
»Bitte, was? Was hat das zu bedeuten? Wir sind die Weihnachtszentrale. Was haben wir mit der Zahnfee zu tun?« Der Oberwichtel war verwirrt, während er die Sirene und das rote Licht abschaltete.
»Sie ist eine gute Freundin von mir, erklärte Santa Claus. »Allerdings hat sie es nicht so mit technischen Dingen. Sie ist eine Fee und bedient sich der Magie. Deswegen habe ich ihr angeboten, in solch dringenden Fällen auszuhelfen. Allerdings ist das hier schon sehr speziell. Ich hoffe, dass ich eine Lösung finde. Santa Claus Ende.«
Der Bildschirm erlosch und ließ die Wichtel mit vielen Fragezeichen über ihren Köpfen zurück.
Santa Claus erhob sich seufzend von seinem Liegestuhl. Er holte sich etwas Wasser aus dem Meer, formte eine Mulde in den Sand und goss es hinein. Statt zu versickern, blieb es, wo es war. Er machte eine magische Bewegung mit den Händen, wie es ihm seine Freundin beigebracht hatte. Wenige Augenblicke später verschwand sein Gesicht aus der spiegelnden Oberfläche und machte dem der Zahnfee Platz, die gerade auf dem Balkon ihres Zahnschlosses frühstückte.
»Hallo, mein lieber Freund.« Sie lächelte. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs? Möchtest du mit mir aus der Ferne eine Tasse leckeren Kakao trinken?« Sie hob die Tasse an und nahm einen kräftigen Schluck.
»Nur gern, aber heute melde ich mich wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.« Santa erklärte in wenigen Sätzen, was gerade geschehen war.
»Oh nein, das arme Mädchen.« Die Zahnfee fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar. »Natürlich kann ich ihr trotzdem ein Geschenk unter ihr Kopfkissen legen. Es war nur ein Unglücksfalls, dass der Zahn abgestürzt und verschwunden ist. Aber dann werden vielleicht unangenehme Fragen gestellt und Kinder kommen vielleicht auf die Idee, nach mir zu fragen, obwohl sie keinen Zahn verloren haben. Ich würde mehr Arbeit bekommen, als ich bewältigen kann. Der Zahn muss gefunden und an ihre Besitzerin übergeben werden. Nur wie?«
Santa Claus senkte betroffen seinen Blick und seufzte. Doch dann hob er den Kopf. Er sah entschlossen aus. »Jetzt kann uns nur noch ein Superheld mit ganz dicken Muckis helfen.«
»Aber wer, mein guter Freund? Rufen wir Batman? Den unglaublichen Hulk? Chuck Norris?«
Santa schüttelte den Kopf. »Leinwandhelden können weder die Welt retten, noch einen kleinen Zahn in einem Busch finden. Wir brauchen jemanden mit echten, mit stahlharten Muckis. Wir brauchen Froggy McMuscle. Ich werde ihn sofort benachrichtigen.«
Im Kaminzimmer klingelte das Telefon. Auguste Cigogne, ein hochgewachsener Storch in Frack und Fliege griff zum Hörer. Im Flüsterton nahm er das Gespräch an, wechselte ein paar Worte, bevor er seinen Chef ansprach. »Monsieur Grenouille, hier möchte sie jemand sprechen. Die Rede ist von einer Angelegenheit höchster Dringlichkeit.«
Aus einem großen, gemütlichen Ohrensessel erhob sich ein Frosch in einem schicken Abendmantel. Er nahm den Hörer. Grenouille. Ich höre.« Er nickte mehrmals. »Ist in Ordnung, wir sind unterwegs.« Er legte auf und wandte sich an seinen Assistenten. »Auguste, wir haben einen Auftrag, der keinen Aufschub duldet. Wir müssen das gesamte Weltgefüge ins Lot bringen. Es steht zu befürchten, dass alles ins Wanken gerät.«
Sie ließen alles stehen und liegen und stürmten ins Nebenzimmer, um nur wenige Sekunden später den Flur entlang zu laufen. In der Zwischenzeit hatten sie sich umgezogen. Der Frosch trug ein blau und weiß gestreiftes Shirt und eine rote Latzhose, während der Storch eine Fliegerbrille auf seinem Schnabel zurechtrückte. Sie stiegen in ein Fluggerät, das sie in Windeseile zu den Wolken hinaufbrachte und schließlich bis zum Schloss der Zahnfee.
»Ist das nicht beeindruckend, Auguste?« McMuscle sah begeistert auf das Schloss hinab, das wie ein riesiger Zahn geformt war. »Ich gehe ganz schwer davon aus, dass sie ihren Job mit größter Hingabe und Liebe erfüllt. Müssten wir nicht unsere Tarnidentität aufrecht erhalten, ich würde uns sofort ein Villa in der Form eines Froschkopfes bauen lassen.«
Eigentlich hätten sie, um Zeit zu sparen, eine Strickleiter zum Boden herabgelassen, da die Zahnfee aber über eigene Flügel verfügte, schwebte sie kurzerhand hinauf und stieg in den Flieger.
»Ich weiß gar nicht, wie sehr ich euch danken soll. Santa Claus hat hoffentlich nicht zu viel versprochen. So ein Milchzahn ist nämlich sehr klein und in einem dichten Buschwerk so gut wie nicht zu finden.«
Froggy McMuscle zwinkerte mit einem Auge. »Das schaffen wir schon. Ich werde auch dafür sorgen, dass sie nicht gesehen werden, Teuerste.«
Sie düsten los. Im Navigationssystem war das Haus, in dem Paula lebte, bereits eingegeben.
Das Ziel war schnell erreicht. Nicht einmal eine Stunde waren sie unterwegs gewesen. Auguste brachte den Antrieb des Fluggeräts in den Lautlos-Modus und parkte ihn in der Luft über dem Haus. »Wir sind so weit, Boss. Es kann losgehen.«
McMuscle öffnete eine Seitenluke und griff nach einem dicken Gummiband, dass an der Unterseite eines Flügels befestigt war.
»Ich habe hier ein Universal-Ortungs-Gerät. Damit können wir alles aufspüren. Wenn ich es auf Zahnschmelz einstelle, sollten wir den kleinen Schatz aufspüren können.« Kaum ausgesprochen, blinkte es auf dem Display. Da war der Milchzahn.
Gerade wollte sich McMuscle das Gummiband an seiner Latzhose befestigen, da kam ihm die Zahnfee zuvor. »Danke, aber das muss ich einfach selbst erledigen.« Sie ließ sich fallen, stürzte mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefe und verschwand im Grün des Busches. Das Gummi hatte im letzten Augenblick den Sturz abgebremst und zog sie nun wieder nach oben. Die Zahnfee kam zum Vorschein. »Ich habe ihn!« Sie jubelte laut. Doch statt in das Fluggerät zurückzukehren, hielt sie sich spontan am Fensterbrett fest, hinter dem Paula noch immer weinend stand.
»Es ist alles in Ordnung. Du musst nicht weinen. Ich habe deinen Zahn gefunden und gerettet.« Stolz zeigte sie ihn vor, bevor sie ihn in ein kleines Stoffsäckchen gab, dass an ihrem Gürtel befestigt war. »Als Dank dafür möchte ich dir schon jetzt ein Geschenk überreichen, dann musst du nicht bis Morgen früh warten.«
Paula blickte, noch immer völlig überrascht von diesem unerwarteten Besuch, auf den Taler, der nun in ihrer Hand lag. »Dankeschön.«, sagte sie. Doch da war die Zahnfee bereits verschwunden. Gemeinsam mit Froggy McMuscle und seinem Assistenten ging es zurück zum Schloss.
»Was für ein grandioses Abenteuer.« Die Zahnfee war noch immer völlig aus dem Häuschen. Ich hätte niemals gedacht, dass die Arbeit eines Superhelden so aufregend sein kann. Was meinst du, ob ich das als Nebenjob auch machen könnte? Brauchst du vielleicht eine Superheldenanwärterin in deinem Team?«
Der Frosch überlegte kurz. »Vielleicht lässt sich da etwas machen. Aber nur, wenn ich für dich ab und zu Zähne abholen darf. Das hat nämlich mir ganz wunderbar gefallen.«
Sie lachten und schüttelten sich die Hände. »Abgemacht ist abgemacht.«
(c) 2025, Marco Wittler
Antworten