Das letzte Scheuertier
Das Scheuertier kroch aus seiner unterirdischen Höhle, gähnte einmal laut und rieb sich die müden Augen. Mit einer Pfote strich es sich über das Fell, das eigentlich keines war. Statt eines dichten Haarpelzes,befanden sich auf seinem Körper schuppenartige Plättchen, die ziemlich hart waren. Diese dienten nicht seinem Schutz vor Raubtieren. Vor denen hatte es keine Angst. Die Plättchen dienten einem ganz anderen Zweck.
Das Scheuertier nickte zufrieden. »Zeit für die Arbeit.« Es kramte in seiner Tasche, holte einen Kalender hervor und blätterte durch die Seiten. »Ui, da stehen aber viele Termine für heute drin. Ich sollte mich sputen, sonst kann ich meine Mittagspause vergessen.«
Es überprüfte noch einmal, ob es alles, was es brauchte, eingepackt hatte und machte sich auf den Weg.
Das Scheuertier lief über eine grüne Blumenwiese und durchquerte mehrere Felder. Unterwegs traf es immer wieder auf andere Tiere, von denen es freundlich gegrüßt wurde. Sie alle hatten schon ganz wunderbare Erfahrungen mit seinem einzigartigen Beruf gemacht.
Ja, einzigartig war das Scheuertier tatsächlich, denn es war das letzte seiner Art. Umso gefragter war es natürlich.
Es hatte den Wald erreicht. Ein letztes Mal überprüfte es seinen Kalender, orientierte sich und steuerte zielsicher auf eine alte Eiche zu. »Es kann losgehen.« Langsam lehnte es sich an den Baum und scheuerte seine harten Körperplatten an der Rinde.
Ein leises Seufzen ertönte, das nicht lauter war, als das Säuseln des Windes und damit leicht hätte verwechselt werden können. »Das habe ich jetzt dringend gebraucht.«, flüsterte der große Baum. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mich diese lästigen Borkenkäfer gejuckt und genervt haben.«
»Nichts zu danken.« Das Scheuertier beendete seine Tätigkeit und wollte gerade zum nächsten Termin laufen, als es hinter sich eine lange Schlange entdeckte. Dort saßen Wölfe, Füchse, kleine Kaninchen und große Hasen. Ein Hirsch klopfte ungeduldig mit seinem Geweih gegen einen Busch, während der Uhu im Geäst ein lautes Huhu rief.
»Leute, wie oft muss ich euch das noch erklären, ich kann mich nur um im Voraus vereinbarte Termine kümmern. Wenn ich ständig jemanden dazwischenschiebe, werden meine anderen Kunden ganz ungeduldig.«
Ein Wolf trat vor. Man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. »Kannst du nicht mal eine Ausnahme machen? Ich habe da irgendwo hinter meinem Ohr einen Floh sitzen, der mich noch um den Verstand bringt. Ich komme alleine nicht ran.«
Das Scheuertier seufzte. »Einer nach dem anderen. Und das behaltet ihr bitte für euch.« Es konnte halt niemandem eine Bitte abschlagen.
Und so kümmerte es sich mal wieder um jedes kleine Jucken und Kitzeln, bis die Bäume und Tiere wieder ruhig schlafen konnten.
(c) 2025, Marco Wittler
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