207. Eine Burg in Not

Eine Burg in Not

Lenara saß in ihrer kleinen Schaukel und sah gelangweilt durch die Gegend. Nachdem sie sich als ausgewachsene Elfe einen eigenen Wohnplatz gesucht hatte, war sie sehr oft allein und hatte nichts zu tun.
Am späten Abend, wenn die Bewohner der Burg Klusenstein im Haus saßen, ging Lenara spazieren. Sie kletterte auf die Burgmauer, ließ ihre Beine baumeln und sah hinab in den kleinen Fluss, der sechzig Meter unter ihr dahin plätscherte.
An einem dieser Abende fuhr ein dickes Auto auf den Burghof. Als es zum Stehen kam, stieg ein großer Mann in einem teuren Anzug aus.
»Dann woll’n wir mal seh’n, ob uns das Burgerl g’föllt.«, sprach er in einem fremden Dialekt.
Was ging denn da vor sich? Die kleine Elfe wunderte sich. So spät war hier noch nie jemand angekommen. Um nicht entdeckt zu werden, versteckte sie sich in ihrer kleinen Wohnhöhle und beobachtete von dort aus das Geschehen.
In diesem Moment kam die Burgherrin heraus, begrüßte ihren späten Gast und nahm ihn mit ins Haus.
»Was machen die zwei denn da?«
Lenara wurde immer neugieriger. Sie kletterte nach draußen, lief über den Burghof und setzte sich vor eines der Burgfenster. Doch leider war es verschlossen. Sie konnte nichts hören.
Nach etwa zwei Stunden kam der Mann wieder heraus und setzte sich in sein Auto. Er verabschiedete sich und kündigte an, bereits in einer Woche wieder vorbei zu kommen. Er fuhr davon und die Burgherrin verschwand mit gesenktem Kopf hinter der Haustür.
»Das kann ja heiter werden.«, war das letzte, was sie an diesem Tag sagte.

Am nächsten Morgen war Lenara schon früh auf den Beinen. Das lag nicht etwa daran, dass sie eine Frühaufsteherin war, sondern an dem lauten Streit, der auf dem Burghof geführt wurde.
»Wie kannst du denn nur? Alle deine Vorfahren haben hier gelebt und sich um die Burg gekümmert.«
Das war Katrin, die Freundin der Burgherrin Esther.
»Ich bin doch auch jeden zweiten Tag hier. Der Klusenstein ist mein zweites Zuhause. Das kannst du uns doch nicht antun.«
Sie schien richtig sauer zu sein.
Katrin stopfte verlegen ihre Hände in die Hosentaschen und wurde rot im Gesicht.
»Ich konnte nicht anders. Es sind so viele Reparaturen am Dach und den Mauern zu machen, damit nicht irgendwann alles in sich zusammenbricht. Es regnet in manchen Räumen sogar schon rein. Ich weiß einfach nicht, wie ich das alles bezahlen soll. Die Rechnungen türmen sich jetzt schon bis zur Decke.«
Sie setzte sich auf eine Holzbank und lies den Kopf hängen.
»Wenn ich nicht in einer Woche das ganze Geld zusammen habe, muss ich verkaufen. Der Mann von gestern Abend will ein Hotel hier einrichten.«
Lenara traf der Schlag. Ein Hotel? Wo sollte sie als kleine Elfe denn dann bleiben? Dagegen musste sie unbedingt etwas unternehmen.
»Was was kann ich denn schon machen? Ich bin klein und niemand wird mich ernst nehmen.«
Sie wühlte in ihren Taschen, fand aber nur einen einzelnen Knopf.
»Damit werde ich mein Zuhause auch nicht retten können.«
Sie seufzte verzweifelt und flog im hohen Bogen davon.

Noch wusste Lenara nicht, wohin es sie trieb. Sie war einfach davon gebraust. Ihre kleinen Flügelchen schlugen wie wild durch die Luft. Als sie dann schließlich aus der Puste war und landete, fand sie sich in einer Höhle wieder. Sie musste tief unter der Erde sein.
»Was ist denn das?«
Sie sah sich genauer um, denn sie hatte Erstaunliches entdeckt.
»Das muss ich sofort den Menschen zeigen.«
Sie suchte sich den Ausgang und war ein paar Minuten später vor einem Burgfenster angekommen.
Wild klopfte sie mit ihren kleinen Händen vor das Glas, bis endlich jemand auf sie aufmerksam wurde.
»Um Himmels Willen. Was ist denn das? Eine Elfe? Ich dachte die gibt es nur im Märchen.«
Katrin lief sofort nach draußen. Sie wollte sich davon überzeugen, nicht zu träumen.
»Tatsächlich. Da sitzt eine Elfe vor meinem Fenster.«
Lenara rollte mit den Augen. Diese Frau sollte endlich begreifen, dass sie nicht in einem Märchen steckte, sondern sollte ihr folgen. Sie flog ein paar Mal hin und her und winkte Katrin hinter sich her. Sie lockte die Frau in die Höhle und zeigte ihr, was sie gefunden hatte.
»Ich fasse es nicht.«, staunte Katrin.
»Das ist ja der verschwundene Burgschatz. Ich dachte immer, dass er nur eine Legende gewesen wäre.«
Sofort     holte sie ihr Handy aus der Tasche und rief ihre Freundin an, mit der sie noch in der folgenden Nacht alles Gold und Geschmeide in die Burg brachte.
»Jetzt können wir doch noch unser Zuhause retten.«
Die beiden Frauen waren glücklich. Aber Lenara war noch viel glücklicher, denn sie hatte etwas Großartiges vollbracht.

(c) 2009, Marco Wittler

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