652. Knochen

Knochen

Am frühen Abend saß Leonie mit Papa auf dem großen Sofa im Wohnzimmer. Sie lasen in einem dicken Buch mit Abenteuergeschichten. Jetzt gerade ging es um wilde Piraten, die auf hoher See einen großen Goldschatz erbeutet und auf einer einsamen Inseln vergraben hatten.
»Gibt es tatsächlich versteckte Piratenschätze?«, wollte Leonie wissen.
Papa nickte. »Es gab früher sehr viele Piraten, die immer wieder andere Schiffe überfallen und ausgeraubt haben. Und nicht jeder Pirat hat es geschafft, seinen versteckten Schatz zu holen. Manche von ihnen wurden irgendwann gefangen und eingesperrt, andere sind bei starken Unwettern im Meer versunken und nie wieder aufgetaucht.«
»Wow.«, machte Leonie. »Das ist ja echt der Hammer. Dann können wir doch mal nach so einem alten Schatz suchen.«
Papa wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Warum denn nicht?«
»Na ja. Es ist so. Nicht jeder Pirat ist so tot, wie er es eigentlich sein sollte. Ein paar von ihnen, so sagt man, treiben immer noch als Geist ihr Unwesen und bewachen bis in alle Ewigkeit ihren Schatz, damit ihn niemand klauen kann.«
Leonie zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal. Ich glaube nicht an Gespenster.«
Sie stand auf und zog Papa vom Sofa. »Na los, lass uns einen Piratenschatz suchen.«
Papa seufzte und stand auf.
»Aber wo willst du denn suchen? Wir haben nicht mal eine Schatzkarte.«
Leonie grinste. »Ich male uns einfach eine Karte und dann suchen wir.«
sie flitzte ins Kinderzimmer und kam ein paar Minuten später mit einer Schatzkarte zurück.
»Wenn ich das richtig sehe, liegt der Schatz hinten im Garten.«, murmelte Leonie und war in die Zeichnung vertieft.
»Im Garten? Dann müssen wir das auf Morgen verschieben. Es ist schon spät und draußen ist es dunkel.«, erwiderte Papa.
Leonie warf ihm einen enttäuschten Blick. »Mensch Papa. Das können wir auf keinen Fall verschieben. Was ist, wenn jemand den Schatz vor uns findet? Wir nehmen einfach eine Taschenlampe mit.«
Es half also nichts. Papa musste mit nach draußen. Mit einer Schaufel bewaffnet und Stirnlampen am Kopf gingen nach draußen in die kühle Nacht. Am Himmel leuchteten die Sterne. Der Mond warf ein fahles Licht zur Erde hinab. Hin und wieder flog eine Fledermaus durch die Luft und jagte einem Insekt nach. Ein Uhu machte ‚Huhu‘ und ein paar letzte Grillen zirpten in der Dunkelheit.
»Ist das spannend.«, war Leonie aufgeregt, während sie dem Weg auf der Karte folgte.
Sie ging von der Terrasse zum Springbrunnen, vorbei an der Schaukel, unter dem Kirschbaum hindurch bis zum Komposthaufen. Von dort aus ging es weiter zur Kastanie, die fast alle Blätter von sich geworfen und einen großen Laubhaufen gebildet hatte.
»Hier muss es sein.«, flüsterte Leonie andächtig. und ließ sich die Schaufel von Papa geben.
Sie wischte das Laub nach links und nach rechts. Darunter kam nach und nach die Erde zum Vorschein.
»Jetzt müssen wir nur noch graben.«
Den ersten Spatenstich machte sie ganz vorsichtig. Doch mit jedem Mal stieß sie fester und tiefer in die Erde und grub ein Loch, das immer größer wurde. Dabei stieg dann auch ihre Aufregung immer weiter.
Irgendwann stieß sie auf etwas Hartes.
»Da ist er!«, jubelte sie. »Da ist die Schatzkiste.«
Papa war überrascht. Ein Schatz? Ein echter Piratenschatz in seinem Garten? Wie kam denn der dort hin? Sie wohnten weit weg vom Meer. Er war nur deshalb mit nach draußen gekommen, weil er es für ein nettes Spiel gehalten hatte. Und jetzt hatten sie tatsächlich etwas gefunden.
»Vorsichtig jetzt. Wir sollten die Kiste nicht kaputt machen.«
Er hockte sich hin und wischte die Erde sachte mit den Händen zur Seite, bis – ja, bis tatsächlich etwas zum Vorschein kam.
»Oh, mein Gott.«, war er entsetzt. »Das … das sind ja Knochen.«
Leonie erschrak ebenfalls. »Das … ist … ja … schreck- … lich.«, stotterte sie schockiert. »Vielleicht ist der Pirat bei seinem Schatz gestorben und die Kiste liegt unter ihm.«
Sie gruben also weiter. Nach und nach wurde der Schrecken immer größer, denn sie fanden einen Knochen nach dem anderen. Ein Schatz war allerdings nicht zu sehen.
Plötzlich gab es ein Geräusch. Irgendwas – oder irgendwer – näherte sich. Es rauschte laut im Laub. Zu sehen war aber nichts und niemand.
»Das … das muss der Geist des Piraten sein.«, schrie Papa.
Er packte Leonie an der Hand, rannte mit ihr zurück ins Haus und warf die Gartentür hinter ihnen zu.
»Das war Rettung in letzter Sekunde.«, war auch Leonie erleichtert. »Ich will nie wieder nach einem Schatz suchen, dass ist mir viel zu gefährlich.«
Zur gleichen Zeit tauchte im Garten ein Kopf aus dem Laub auf. Es war Bello, der Familienhund. Bello hatte genau beobachtet, was Papa und Leonie da getan hatten. Sie hatten das Versteck seiner alten, abgenagten Knochen gefunden, die er für später im Garten vergraben hatte. Er hatte sich also im Laub angeschlichen, um die beiden zu verscheuchen. Das hatte wunderbar geklappt. Zufrieden buddelte er das Loch wieder zu und machte sich dann auf den Weg zurück zum Haus.
Über ihm hatte aber noch jemand das Geschehen mit großem Interesse beobachtet. Der Geist eines alten Piraten saß in der Krone der Kastanie und war mehr als erleichtert, dass der Hund die beiden Menschen verscheucht hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie einen halben Meter unter den Knochen seinen großen Goldschatz gefunden hätten. Erleichtert atmete er durch und löste sich langsam wieder auf.

(c) 2018, Marco Wittler

Unser Score
Klicke, um diesen Beitrag zu bewerten!
[Gesamt: 0 Durchschnitt: 0]

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*