736. Elsas Traum vom Fliegen

Die folgende Geschichte ist eine Fortsetzung von „Die Fliegerbrille“, einer Geschichte um die Kuh Elsa, die ich vor 13 Jahren geschrieben habe. Wenn du sie zuerst lesen möchtest: KLICK HIER!

Elsas Traum vom Fliegen

Es war eine lange und unruhige Nacht. Im Stall eines Bauernhofs lag die Kuh Elsa auf ihrem mit Heu bedeckten Platz und konnte nicht einschlafen. Das lag nicht am Vollmond, der gerade hinter dem Horizont aufgegangen war oder an der viel zu heißen Sommernacht. Es war eine Erinnerung an ein Ereignis, das schon einige Jahre zurück lag. Elsa kam es trotzdem vor, als wenn es gestern gewesen wäre.
Es gab nicht mehr viel, dass die Kuh daran erinnerte. Der rote Schal, den sie damals getragen hatte, war mittlerweile von vielen Löchern durchsetzt und auch der alte Zeitungsartikel hinter ihr an der Wand hatte seine Farbe verloren und bestand nur noch als alter Fetzen. Auch der wohl verdiente Respekt der anderen Kühe war längst verklungen. Und trotzdem träumte Elsa jede Nacht von ihrem größten Abenteuer.
Dieses Mal war es wieder besonders schlimm. Deswegen konnte sie auch nicht schlafen.
Sie hatte schon versucht, sich hin und her zu wälzen. Auch das Schäfchen zählen hatte nichts gebracht. Die von einer älteren Schweinedame ausgeborgte Schlafmaske hatte ebenfalls nicht in den Schlaf geholfen.
Und deswegen lag Elsa nun im Stroh und dachte darüber nach, wie sie vor langer Zeit ohne Flugzeug, Hubschrauber oder Drachen durch die Lüfte geflogen war.
»Wenn ich doch bloß damals nicht meine Fliegerbrille verloren hätte. Dann könnte ich immer noch fliegen. Ich wäre jede Nacht unterwegs und würde es genießen, mir den Wind um die Nase wehen zu lassen.«
Die Fliegerbrille, die sie damals gefunden hatte, war nach ihrem ersten und einzigen Flug verloren gegangen und nie wieder aufgetaucht. Das war das größte Unglück ihres Lebens gewesen. Und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wo das geschehen war.
Aus dem Dunkel der Nacht war plötzlich die Stimme des Bauern zu hören. Er schimpfte immer wieder über die viel zu warmen Temperaturen und dass er dabei nicht schlafen könne. Durch einen Spaziergang erhoffte er sich wohl, besser in den Schlaf finden zu können.
Er wanderte auf dem Hof hin und her und wieder zurück. Er lief im Kreis, sah in den einzelnen Ställen immer wieder nach dem Rechten.
Und dann schrie er verärgert auf.
»Verdammter Mist!«, war er erbost. »Wie konnte mir das nur passieren?«
Aber was genau war denn nun passiert? Elsa sah neugierig aus dem Fenster und entdeckte den Bauern, wie er vor einem Gullideckel saß. Verzweifelt ruckelte er daran herum, bis er ihn endlich aus dem Boden gehoben bekam. Dann griff er hinein und holte alles Mögliche daraus hervor.
»Wie kommt denn meine alte Mütze da rein?«, fragte sich der Bauer und warf das verrottete Teil zur Seite. Als nächstes hielt er einen stinkenden Haufen in der Hand, der eigentlich auf den Mist gehörte.
Und dann war sie plötzlich da. Der Bauer hielt sie tatsächlich in der Hand. Elsa bekam große Augen und wollte ihnen nicht trauen. Es war die Fliegerbrille.
»Eine Fliegerbrille?«, war der Bauer verwirrt. »Das hier ist doch kein Flugplatz. Ich will doch nur mein Handy zurück.«
Auch die Brille flog in hohem Bogen davon und landete direkt vor dem Kuhstall.
Elsa wurde nervös. Es hielt sie nun nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stand vom Stroh auf und ging zum Tor.
»Ruhe da drinnen!«, brüllte der Bauer. »Es wird geschlafen und sonst nichts.«
Elsa erschrak und verharrte, wo sie war.
»So, geht doch.«, war der Bauer irgendwann zufrieden. Er hatte sein Handy gefunden. Damit verschwand er dann endgültig wieder in seinem Haus.
Elsa, die minutenlang unbewegt gewartet hatte, war erleichtert. Sie öffnete das Stalltor und entdeckte die lang vermisste Fliegerbrille.
»Ich kann es gar nicht glauben.«, flüsterte sie ihn die Nacht hinein, als sie die Brille ergriff. Jetzt kann ich endlich wieder fliegen.«
Schnell lief sie zu ihrem Liegeplatz zurück, legte sich den alten Schal um und trat ein zweites Mal hinaus ins Freie. Dann setzte sie sich die Brille auf die Nase und sprach die Worte, die sie vor vielen Jahren gesprochen und nie vergessen hatte.
»Na los. Flieg schon. Ich will nach oben zu den Sternen.«
Ein kleiner Lichtblitz entfuhr der Brille und traf den Schal, der sich augenblicklich in Bewegung versetzte und schnell im Kreis rotierte. Elsa bekam ein Gefühl der Schwerelosigkeit und hob nur wenige Sekunden später ab.
»Wuhuu!«, rief Elsa vergnügt und drehte eine schnelle Runde um den Bauernhof. »Ich fliege! Seht her, ich fliege!«
Ungläubig kamen die anderen Tiere nach draußen und entdeckten tatsächlich eine fliegende Kuh am Himmel.
»Aber dieses Mal werde ich nicht wieder zu euch zurück kommen.«sagte Elsa triumphierend. »Ich werde um die Welt fliegen und noch ganz viele Abenteuer erleben.«
Sie drehte ab und flog in die Nach hinaus. Auf ihrem Weg um die Welt kam sie an einer Wäscheleine vorbei, an der ein nagelneuer Schal hing.
»Fein! Den kann ich gut gebrauchen.«
Sie schnappte ihn sich und verschwand.

(c) 2019, Marco Wittler

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