765. Ich fing ‚Nummer Eins‘

Ich fing ‚Nummer Eins‘

Mit einem leisen, aber durchdringenden Knarzen und Quietschen öffnete sich die Tür vor mir. Ich konnte und wollte meinen Augen nicht trauen.
»Was?«, rief ich. »Du bist ‚Nummer Eins‘?«
Und ‚Nummer Eins‘ nickte nur. Dann jagte er mir seine Bande entgegen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich verloren hatte.

Ein paar Stunden zuvor.
Ich lag bewusstlos in einem alten, schäbigen Pappkarton in der hinterletzten Ecke eines dunklen Raums. Wenn mein Denken nicht völlig ausgesetzt hätte, hätte ich mich gefragt, wie und warum ich hierher gekommen war. Stattdessen schnarchte und grunzte ich einfach vor mich hin. Das tat ich übrigens jedes Mal, wenn ich in diesem Pappkarton meine Nächte verbrachte. Das lag nicht etwa daran, dass ich zu viel getrunken hätte. Nein. Vielmehr war mein Verhalten darin zu erklären, dass ich ein Kater von grauem Fell war mit dickem Bauch war. Und wie jeder Mensch weiß, sind Pappkartons der Lieblingsaufbewahrungsort nicht nur eines Katers, sondern einer jeden Katze.
Und dann stellt sich dem interessierten Leser sicher schon die nächste Frage: Warum berichtet ein Kater von einem überaus spannenden Kriminalfall, der durch seine Einzigartigkeit in die Geschichte eingehen sollte?
Nun, das ist äußerst schnell erklärt. Ich bin der helle Kopf eines überaus erfolgreichen Ermittlerteams. Wir nennen uns Mann und Manni. Der eine Teil davon bin ich, Manni genannt. Ich bin ein Kater von grauem Fell mit einem dicken Bauch, den ich nur zu gern mit schweren Knochen erkläre.
Die andere Hälfte ist der Mann. Er lebt hier bei uns in unseren Vier Wänden und verbraucht unnötig viel Luft. Das liegt einfach daran, dass er nicht der Schlaueste ist. Das macht aber nichts. Erfolgreich sind wir trotzdem, denn er erledigt jeden meiner Aufträge zu meiner Zufriedenheit.
Aber kommen wir zurück zu den wichtigen Dingen meines Berichts: zu mir.
Irgendwann in dieser Nacht wachte ich auf. Ein ungutes Gefühl hatte sich in meiner Magengrube breit gemacht. Die einen nennen es schlicht Hunger. Für mich ist es ein Alptraum, denn bei meiner Figur steht man immer mit mindestens drei Pfoten vor dem Tod durch Verhungern.
Ich gähnte herzhaft, streckte mich, buckelte meinen Rücken und verließ meinen Schlafplatz. Mit geübtem Blick stellte ich fest, dass die Futternäpfe bereits leer waren. Wieder mal waren meine schrägen Mitbewohner Lord Schweinenase, die Mini-Mietze und der Bengale schneller gewesen. Aber zu denen komme ich später. Gezwungenermaßen.
Nachdem ich also die leeren Näpfe zur Kenntnis genommen hatte, machte ich mich auf den langen und beschwerlichen Weg zur Kammer. Dort lagert die Frau, die ebenfalls Teil unserer Wohngemeinschaft ist, sämtliche Vorräte an Nahrungsmitteln, die man sich nur vorstellen kann. Das reicht von trockenem Obst, das keiner essen mag, über ungesundes, grünes Grünzeug bis hin zu den vielen Packungen Katzenfutter, die mit Fleisch und wertvollen Vitaminen und Mineralstoffen gefüllt sind, die ich so liebe. Noch lieber wäre mir natürlich der Braten aus dem Kühlschrank in der Küche gewesen, aber die Menschen hier weigern sich unverständlicherweise noch immer, einen Griff an der Tür anzubringen, den auch ich benutzen kann.
Zu meinem Glück – und das bleibt hoffentlich unter uns – steht neben dem Kühlschrank ein Regal, von dem aus ich ihn trotzdem öffnen kann.
Aber zurück zu meinem Bericht. Ich war auf dem Weg zur Kammer, wollte mir gerade eine Packung Futter gönnen, als mich der größte Schreck meines Lebens ereilte. Das Regal vor meinen Augen war wie leer gefegt.
Moment! Das konnte gar nicht sein. Meine Erinnerung sagte mir, dass die Frau erst am Tag zuvor für mich einen Großeinkauf erledigt hatte. Die Kammer sollte eigentlich bis zur Decke gefüllt sein. Irgendetwas Seltsames war hier geschehen.
Ich ließ meinen kriminalistisch geschulten Blick durch den Raum wandern, suchte nach einer Erklärung, konnte sie aber nicht finden. Stattdessen ertönten leise Schritte hinter mir.
Der Bengale tauchte aus der Dunkelheit auf. Der Blick, den er mir zuwarf war klar und deutlich: ‚kein Futter?‘
Ich schüttelte meinen Kopf. Nein! Kein Futter!
Traurig senkte er seinen Blick. Ich konnte ihm nachfühlen, wie er sich in diesem Augenblick fühlte, denn er war deutlich dünner als ich und würde wahrscheinlich schon nach wenigen Stunden verhungert sein.
Ein weiteres Augenpaar gesellte sich zu ihm. Die Mini-Mietze, ich erwähnte sie ebenfalls ein paar Absätze zuvor, kam herein. Sie erfasste die Lage sofort und entdeckte ein Loch in der Wand.
Ohne sich lange bitten zu lassen, sprang sie mit einem großen Satz nach vorn, ließ ihre Pfote ins Innere gleiten und förderte eine Maus zu Tage.
»Lass mich sofort los!«, brüllte die Maus wütend. »Lass mich los oder ‚Nummer Eins‘ wird euch alle in den Boden stampfen.«
Überrascht ließ die Mini-Mietze die Maus fallen. Sie war es normalerweise gewohnt, dass Mäuse ihre scharfen Krallen und Zähne fürchteten.
»Und jetzt geht mir aus dem Weg. Ich habe zu arbeiten.«
Völlig unbeeindruckt stolzierte die Maus zum Regal, schnappte sich das letzte Paket Katzenfutter und brachte es zum Mauseloch.
Ich wusste zuerst nicht, wie ich darauf reagieren sollte, doch dann nickte ich der Mini-Mietze zu. Sie wartete nicht lange und griff wieder zu.
»Verdammt!«, rief die Maus. »Habt ihr mir nicht zugehört? ‚Nummer Eins‘ ist hier der Boss im Haus. Wenn ihr mich nicht sofort laufen lasst, wird er sich an euch bitterlich rächen.«
Ja, ja. Ich würde es darauf ankommen lassen. Was konnte ein einzelner Verbrecher schon gegen mich und mein Ermittlerteam ausrichten.
Doch dann geschah etwas, mit dem ich niemals gerechnet hatte.
Aus dem Loch in der Wand war leises Getrappel zu hören, das schnell lauter wurde. Mit einem Mal strömte eine große Mäusegruppe in die Kammer. Es waren so viele, dass wir sie nicht alle auf einmal einfangen konnten. Es war sogar das Gegenteil der Fall. Sie umringten uns, kreisten uns ein. Ihre bösen Blicke trafen uns tief in unseren Seelen.
Der erste, der es mit der Angst zu tun bekam, war der Bengale. Er warf seinen Hintern herum, stürmte aus der Kammer und verschwand in einem seiner vielen Verstecke.
Als nächstes ließ auch die sonst so mutige Mini-Mietze ihre Beute fallen und lief dem Kater nach.
Ich war also nun allein. Die Mäuse kamen mir immer näher. Ich wusste, dass ich keine Chance haben würde.
»Jetzt ist es so weit. Du hast es ja nicht anders gewollt.«, drohte mir die erste Maus. »Du hast den Zorn von ‚Nummer Eins‘ herausgefordert. Jetzt trägst du die Konsequenzen.
Ich drehte mich um, wollte über die Mäuse hinweg springen, wusste aber, dass ich es mit meiner nicht ganz so schlanken Figur so weit schaffen würde.
»Er ist hier!«, wisperte die Maus mir zu. »Er wird dich für dein Verhalten bestrafen!«
Sie zeigte mit einer ihrer Pfoten auf einen kleinen Schrank in der Ecke. Von Angst erfüllt sah ich ihn an.
Mit einem leisen, aber durchdringenden Knarzen und Quietschen öffnete sich die Tür vor mir. Ich konnte und wollte meinen Augen nicht trauen.
»Was?«, rief ich. »Du bist ‚Nummer Eins‘?«
Und ‚Nummer Eins‘ nickte nur. Dann jagte er mir seine Bande entgegen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich verloren hatte. Mein neues Wissen, dass ‚Nummer Eins‘ das sonst so lieb und unschuldig dreinschauende Eichhörnchen war, dass täglich am Küchenfenster um Nüsse bettelte, die die Frau nur zu gern nach draußen legte, würde ich wohl mit in mein Grab nehmen.
Und dann wendete sich das Blatt ein weiteres Mal. Mit einem lauten Poltern krachten vier kräftige Pfoten auf den Boden neben mir. Überrascht sah ich in die entschlossenen Augen von Lord Schweinenase.
Der dritte Kater unserer Wohngemeinschaft, dessen größte Lebensleistung seine ständig verdreckte, rosa Nase und seine bedauernswert niedrige Intelligenz waren, war mir zur Hilfe geeilt. Das hätte ich meinem größten Nebenbuhler bei der Futterverteilung niemals zugetraut.
Er nickte mir nur und gab mir zu verstehen, dass ich mich verziehen sollte. Dieser Aufforderung kam ich nur zu gern nach und stürmte zurück in die Freiheit. Dann schloss sich die Kammertür. Für ein paar Sekunden blieb es absolut still. Dann ertönte Ohren betäubender Lärm, bis es nach wenigen Augenblicken wieder still wurde.
Ich ahnte Schlimmstes. Die Mäuse würden Lord Schweinenase überwältigt haben. Doch stattdessen öffnete sich die Tür wieder. Der Kater kam heraus und hielt ein ohnmächtiges Eichhörnchen zwischen seinen Kiefern.
Er nickte mir nur zu. Er ließ mich damit wissen, dass er gerade eine seiner leichtesten Übungen hinter sich gebracht hatte. Die Mäuse hingegen waren bereits dabei, das gestohlene Futter zurück ins Regal zu stellen.
Verdammt, wie hatte dieser Teufelskerl das nur geschafft? Es würde mir ein ewiges Rätsel bleiben.
Ich nahm Lord Schweinenase das gefangene Eichhörnchen ab und geförderte es vor die Tür. Ich gab ihm, als es wieder zu sich kam, zu verstehen, dass es niemals wieder mein Revier betreten solle. Dann flüchtete es in die dunkle Nacht hinein und wurde nie wieder gesehen. Zufrieden ging ich zurück in die Kammer und gönnte mir ein üppiges Nachtmal, bei dem mir die anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft Gesellschaft leisteten.

(c) 2019, Marco Wittler

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