1584. Der alte Mann im Café

Der alte Mann im Café

Endlich war der Winter vorbei. Nach Monaten voll Kälte, Regen, Schnee und dunklen Wolken, kam nun das erste Mal die Sonne raus und brachte Wärme in die Stadt.
Franzi, die gerade auf dem Weg zur Schule war, erblickte zufällig einen alten Mann, der vor einem Café Platz genommen hatte und eifrig mit einem Füller auf einem Stapel Papier schrieb. »Puh, also dafür wäre es mir zu kalt.« Doch dann fiel ihr wieder auf, dass sie selbst ihre Jacke Zuhause gelassen hatte und es nicht mehr so kalt war. »Hm, wenn ich es mir so recht überlege, würde mir das auch gefallen. Sonne genießen, Käffchen trinken und einfach die Seele baumeln lassen. Aber auf mich warten schon meine Schüler.«
Franzi war gern Lehrerin. Sie liebte ihre Arbeit. Aber manchmal brauchte man das einfach. Abschalten und entspannen. Sie seufzte und ging weiter.
In den nächsten Tagen wiederholte sich diese Begegnung und Franzi hing jedes Mal ihren Gedanken nach. »Ich wüsste ja zu gern, was er dort schreibt. Es geht mich ja nichts an, neugierig bin ich trotzdem.« Es sollte eine Woche dauern, bis die junge Lehrerin es nicht mehr aushielt. Statt zur Schule zu gehen, bog sie ab und steuerte auf das Café zu.
Der alte Mann war in seiner Arbeit völlig vertieft. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus seinem Kaffeebecher, löste dabei seinen Blick aber nicht vom Papier. Doch irgendwann bemerkte er einen Schatten, der ihm die Sonne nahm. Er sah auf und entdeckte das grinsende Gesicht einer jungen Frau.
»Hi!«, sagte sie und streckte dem Alten ihre Hand entgegen. »Ich bin Franzi und wahnsinnig neugierig, woran sie hier jeden Tag schreiben. Darf ich mich setzen?«
Der Mann legte den Kopf schief, die Stirn in Falten und nickte schließlich. »Sie sitzen doch bereits.«, stellte er amüsiert fest. »Mein Name ist Marco. Darf ich sie auf einen Kaffee einladen?«
Gemeinsam rückten sie den Tisch und die Stühle hin und her, bis sie beide die Wärme der Sonne genießen konnten. Marco nahm noch einen Schluck Kaffee, bevor er den losen Papierstapel anhob.
»Ich schreibe Geschichten. Schon mein Leben lang habe ich sie in meinem Kopf. Sie entstehen dort einfach, ob ich da will oder nicht. Ich hatte aber nie die Zeit, sie zu befreien. Nun bin ich schon eine Weile Rentner und habe viel Zeit. Ich habe mich dazu entschlossen, alles aufzuschreiben, solang ich noch die Zeit dazu habe.«
Er legte den Stapel wieder auf den Tisch und klopfte mit der flachen Hand darauf. »Wie sie sehen können, sind es wirklich sehr viele Geschichten.«
Franzi hatte große Augen bekommen. Bücher lesen war ihre größte Leidenschaft. Nun saß sie das erste mal einem echten Geschichtenschreiber gegenüber. »Kann ich die auch als Buch kaufen? Lesen sie die Geschichten irgendwo vor? Du meine Güte, ich habe so viele Fragen und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
Der Alte lachte und schüttelte den Kopf. »Die schreibe ich nur für mich. Ich bin mir gar nicht sicher, ob die Geschichten gut genug sind, dass sie jemand lesen oder hören möchte. Mir genügt es, dass ich sie schreiben darf.«
Nun schüttelte Franzi den Kopf. Sie haben bestimmt viel erlebt, gehört und gesehen, sich noch mehr in der eigenen Fantasie ausgedacht. Ich bin mir sicher, dass die Geschichten toll sind. Wäre es unverschämt, wenn ich eine davon hören möchte?«
Der Alte sah sich verstohlen um. Es war sonst niemand im Café zu sehen. »Dann lese ich ihnen eine vor.«
Er blätterte durch seine Papiere, suchte eines davon aus und begann zu lesen. In Franzis Kopf formte sich eine ganz neue, eine bunte, eine vielfältige Welt., die von wundersamen Geschöpfen bewohnt wurden. Sie erlebten Abenteuer, erlitten Leid und hatten große Freude. Mit jedem weiteren Wort wurde sie tiefer mit in die Geschichte gezogen, die sie nicht nur hörte, sondern zu spüren glaubte.
»Ende.«
Die Geschichte war vorbei. Der Geschichtenschreiber legte sie zurück in seinen Stapel und bekam rote Wangen. »Ja, ich weiß. So gut ist sie nicht. Ich mache das auch noch nicht so lange.«
Franzi schüttelte energisch den Kopf. »Das ist eine der besten Geschichten, die ich je gehört habe. Sie hat mich bis in mein Herz und meine Seele berührt. Die sollte in einem Buch stehen, von vielen Menschen gelesen und gehört werden.«
Der Alte seufzte. »Ich traue mich einfach nicht. Es fällt mir schwer, sie anderen zu zeigen. Es wäre viel einfacher, wenn jemand auf mich zukäme, Menschen, die meine Geschichten hören wollen.«
»Ich danke ihnen trotzdem für diesen unvergesslichen Morgen.« Franzi drückte ihm die Hand und verabschiedete sich. Sie musste jetzt wirklich los, um gerade noch rechtzeitig in der Schule zu sein.
Am nächsten Morgen saß der alte Mann wieder vor dem Café in der Sonne. Statt zu schreiben, sah er sich ungeduldig um. Als er Franzi erblickte, winkte er sie zu sich. Er schien schon auf sie gewartet zu haben.
»Ich habe Gestern noch eine neue Geschichte geschrieben, die ihnen gefallen wird. Ich finde sie ganz besonders gelungen.« Er bestellte einen weiteren Kaffee für die Lehrerin, dann begann er zu lesen.
Es wurde spannend. In der bunten Welt, die Franzi bereits kennengelernt hatte, wurde es dunkel. Ein schwerer Schatten hatte sich über das Land gelegt und schien jedes noch so fröhliche Herz zerdrücken zu wollen. Böse Geister zogen über die Wege und durch die Straßen, drangen in jedes Haus, jede Hütte ein. Nur ein kleines Wesen konnte sich dagegen wehren und seine Artgenossen aus der Gefahr befreien.
»Ende.«
Er schaute auf und sah mindestens zwei Dutzend Augenpaare, die ihn fasziniert anblickten. Franzi begann zu applaudieren, die anderen stimmten ein.
»Es tut mir leid. Ich konnte einfach nicht widerstehen und habe alle meine Schüler eingeladen, um diesen wundervollen Geschichten zu lauschen. Ich hoffe, sie damit nicht überfallen zu haben.«
»Doch, das habt ihr.«, antwortete der Geschichtenschreiber, wischte sich ein Tränchen der Rührung aus dem Augenwinkel und begann zu lachen. »Das ist der schönste Überfall, den ich mir vorstellen kann. Ich hätte niemals gedacht, dass so vielen Menschen meine Geschichten gefallen würden. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Er suchte nach den richtigen Worten, während ihn die jungen Menschen erwartungsvoll anblickten. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns jetzt jeden Morgen vor der Schule hier treffen und ich euch eine von meinen Geschichten vorlese? Dann haben wir alle zusammen einen guten Start in den Tag.«
Die Schüler jubelten, Franzi quiekte vor Freude. »Vielen, vielen Dank für das Angebot. Das wissen wir sehr zu schätzen. Unsere Welt ist so schnelllebig, voller Stress und Ablenkungen. Ich glaube, es wird uns allen gut tun, mal für eine Weile abzuschalten.«
In den nächsten Wochen sprach es sich herum, das im Café in der Stadt ein Geschichtenerzähler saß, der jeden Morgen den Passanten eine kurze Auszeit gönnte. Der Kreis der Zuhörer wuchs mit jedem Tag. Als es schließlich Herbst wurde, lud man ihn in die nahe Buchhandlung ein, in die Aula der Schule, wo er seine Lesungen in einem großen, warmen Raum fortsetzen konnte. Immer stand eine große Tasse Kaffee vor ihm auf einem Tisch, an dessen anderem Ende Franzi saß, die mit großen Augen den Geschichten lauschte.

(c) 2024, Marco Wittler

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