1588. Die kleine Hexe mit der dicken Brille hat etwas vergessen

Die kleine Hexe mit der dicken Brille hat etwas vergessen

Die kleine Hexe mit der dicken Brille flitzte aufgeregt in ihrem kleinen Hexenhaus hin und her. Normalerweise war so tief im dunklen Wald nicht viel los. Heute war das natürlich nicht anders, denn die wirklich aufregenden Dinge fanden woanders statt.
»Ich darf auf keinen Fall etwas vergessen. Wenn ich ankomme und habe nicht alles dabei, könnten mich die anderen auslachen oder wieder zurückschicken.«
Sie ging im Kopf noch einmal ihre Liste durch. Der Besen stand startbereit an der Tür. Auf dem Tisch in der Küche lag die Brotdose, in die sie ein paar Apfelviertel als Reiseproviant gepackt hatte. Der dunkle Mantel hing an der Garderobe. Die Hexe fuhr ein letztes Mal mit der Hand über den Stoff. »Perfekt.« Sie hatte ihn also schon mit der Fusselrolle von Katzenhaaren befreit.
»Moment!« Sie blickte sich mehrfach um. »Wo ist mein Hexenhut?« Nachdenklich kratzte sie sich am Kopf und begann zu lachen. »Ach, da ist er ja. Sitzt dort, wo er hingehört. Dann kann ich endlich aufbrechen.«
Doch halt. Ein letzter Gegenstand fehlte noch. Die Brille mit den dicken Gläsern, die sie so ungern trug, gehörte noch auf die Nase. Das Ding war ein Übel, auf das sie leider nicht verzichten konnte. Schon ein paar Mal war sie bei ihren Flügen gegen einen Baum gestoßen. »Die setze ich aber ab, sobald ich auf dem Blocksberg gelandet bin. »Es soll niemand mitbekommen, dass ich eine Brillenträgerin bin. Ich weiß eigentlich, dass das nicht schlimm ist. Peinlich ist es mir trotzdem.«
Sie packte ihre Sachen, ging vor das Hexenhaus und stieg auf den Besen.
»Kleiner Besen flieg mit dem Wind, hinauf zum Blocksberg ganz geschwind.«
Die Hexe hob ab und verschwand schon bald zwischen den Wolken.
Das Ziel war weit entfernt. Zum Glück hatte sie sich schon vor ein paar Wochen das neueste Flugbesenmodell bestellt. Die kleine Hexe war nämlich in den letzten Jahren nie Pünktlich zum Walpurgisfest erschienen. Jedes Mal hatte sie sich wegen ihrer Kurzsichtigkeit verflogen.
»Dieses Mal bin ich besser vorbereitet. Wenn ich von meiner Flugbahn abkomme, habe ich genug Zeit, um mich neu zu orientieren.«
Die Zeit verging. Zuerst färbte die Sonne den Himmel orange, bevor sie unterging. Es wurde dunkel. Mit der Dunkelheit tauchte der Mond hinter dem Horizont auf und brachte eine unendlich große Zahl Sterne mit sich. Ein großer Schatten tauchte in der Ferne auf. »Da ist er!«, rief die kleine Hexe begeistert. »Da ist der Blocksberg. Ich habe den Weg gleich beim ersten Mal gefunden. Das habe ich noch nie geschafft.«
Sie näherte sich dem Landeplatz, der sich auf einer kleinen, etwas abgelegenen Lichtung befand. Noch in der Luft nahm sie ihre Brille ab und verstaute sie sorgsam in einer Manteltasche.
»Jetzt aber flott. Die anderen haben bestimmt schon angefangen.«
Auf dem großen Platz, der sich mitten auf dem flachen Gipfel befand, brannte ein großes Feuer, dessen Flammen weit in den Himmel hinauf loderten. Funken sprühten immer wieder in alle Richtungen davon und tauchten den Wald immer wieder in ein mystisch anmutendes Licht.
»Ich bin da! Ich bin da!« Die kleine Hexe stürmte los, hatte sie ihre besten Freundinnen doch schon seit einem ganzen Jahr nicht mehr gesehen. Wegen der nun fehlenden Brille übersah sie eine Baumwurzel, blieb mit einem Fuß daran hängen und fiel hin.
Die kleine Hexe mit dem großen Hut und die Meerhexe liefen ihr sofort entgegen, halfen ihr zurück auf die Beine. Sie wussten schon lange von der Brille, aber auch, dass es der Freundin zu peinlich war, davon zu erzählen.
»Ist alles in Ordnung?«, erklang eine dumpfe Stimme unter einem riesigen Hexenhut hervor, unter dem nur zwei Füße zu sehen waren.
Die Drei gesellten sich nun zu den anderen der Schwesternschaft der Hexen. Es wurde ausgelassen gefeiert. Sie tranken bitteren Tollkirschensaft und aßen mit Liebstöckel gewürztes Popcorn, während die neuesten Zaubertrankrezepte und Hexensprüche ausgetauscht wurden. Bis zum Sonnenaufgang wurde kein Auge zugetan.
Mit der verblassenden Dunkelheit endete das Fest. Nach und nach brachen die Hexen auf. Auch für die kleine Hexe mit der dicken Brille wurde es Zeit, die Heimreise anzutreten. Sie drückte ihre Freundinnen zum Abschied fest an sich, bevor sie sich auf ihren Besen setzte und davon flog. Es verging Zeit, sehr viel Zeit sogar, denn die Hexe hatte eines völlig vergessen. Ihre Brille schlummerte noch immer in den Tiefen ihrer Manteltasche. So geschah es, dass sie sich ein ums andere Mal verflog. Mal landete sie im Norden, mal im Süden. Selbst im Westen und Osten waren sich manche Menschen sicher, eine Hexe auf einem Besen zwischen den Wolken gesehen zu haben.
»Was für ein aufregender Flug.« Die kleine Hexe war müde und völlig erschöpft. Sie betrat ihr Häuschen und schlurfte in die Küche. Sie wollte jetzt nur noch eine Kleinigkeit essen und dann ein paar Tage schlafen.
»Oh, wer hat mir denn da etwas zu futtern vorbereitet?«
Begeistert nahm die Hexe die Brotdose zur Hand, die auf dem Tisch lag und öffnete sie. Zum Vorschein kamen vier Apfelviertel, die man kaum noch als solche erkennen konnte. Sie waren von einem dichten Schimmelfell überzogen.
»Bäh. Das ist ja eklig. Ich habe wohl bei meinem Aufbruch meinen Reiseproviant vergessen.«
Die kleine Hexe musste niesen. Ein lautes Hatschi entfuhr ihrer Nase und verteilte etwas von ihrer Zauberkraft in der Küche.
Plötzlich regte sich die Brotdose. Die Apfelstücke veränderten sich, bekamen Augen, Beine und lange Schwänze.
»Wuff, wuff.«
»Oh, nein. Das darf doch jetzt nicht wahr sein. Meine Schimmelallergie hat meine Apfelviertel in Minihunde verwandelt. Dabei gehört zu einer ordentlichen Hexe ein schwarzer Kater. Jetzt muss erstmal mit ihnen Gassi gehen und kann immer noch nicht in mein Bett.«
Die kleine Hexe legte ihren neuen Haustieren Leinen an und ging mit ihnen hinaus in den Wald.

(c) 2024, Marco Wittler

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