1096. Ich jagte den Feind meines Freundes (Mann und Manni 39)

Ich jagte den Feind meines Freundes

Es war mitten in der Nacht, als ich aus meinem tiefen Schlaf hoch schreckte und erstaunt feststellen musste, dass die Sonne nirgendwo auf der anderen Seite der Fenster zu sehen war.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und musste grinsen. Sonnenschein in der Nacht. Welch absurde Idee. Solch ein Gedanke konnte auch nur im Kopf eines völlig übermüdeten Katers entstehen.
Ach übrigens: Dieser Kater, von dem gerade die Rede ist, war natürlich ich. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Manni. Ich bin ein großer, grau getigerter Kater. Meine Mitbewohner, zu denen ich später noch kommen werde, hätten mich als dick beschrieben. Ich hingegen bevorzuge das Wort stattlich als Beschreibung meines Körpers.
Und nun lag ich auf dem obersten Podest des Kratzbaums und grübelte darüber nach, was mich aus meinen Träumen gerissen haben konnte. Ich schloss meine Augenlider, bis nur noch ganz schmale Schlitze offen waren. Dann nahm ich das Wohnzimmer unter die Lupe. Alles war ruhig, nichts Auffälliges war zu entdecken.
Doch halt! Was war das? Ich hörte ein leises Schluchzen, dessen Ursprung sich irgendwo hinter dem Sofa befinden musste.
Mit einem lauten Rumms ließ ich mich zu Boden fallen und warf einen Blick hinter das große Möbelstück. Dort saß mein Bruder, Lord Schweinenase. Diesen Namen hatte er vor Jahren bekommen, weil man ihn nie mit sauberer Nase antreffen konnte. Es klebten immer irgendwelche Futterreste daran.
Und nun saß er zwischen Sofa und Wand. Ihm kullerten kleine Tränen an der felligen Wange herab, die im Mondlicht bestimmt wunderschön geglänzt hätten.
Ich fragte nach dem Grund seiner Trauer. Er sah mich nur an, ließ den Kopf sinken und zeigte mit einer Pfote auf sein Schatzkistchen, in dem er seine Spielmaus aufbewahrte. Sie war verschwunden. Das konnte eigentlich nicht sein. Kein einziger meiner Mitbewohner würde sich je zu so einem grausamen Verbrechen herab lassen. Wir mussten es also mit jemandem von Außerhalb zu tun haben. Mir wurde sofort klar, dass ich etwas unternehmen musste. Es wurde Zeit, das Team zu holen.
Ich trottete ins Schlafzimmer, sprang aufs Bett und weckte mit einem Krallenpiekser den schlafenden Mann. Er war ein Mensch, was schon allein einen Makel darstellte. Dazu kam aber auch noch, dass er ziemlich trottelig war. Trotzdem hatte ich ihn gern und wusste, dass ich mich jederzeit auf meinen Partner verlassen konnte.
Mein nächster Weg führte mich zum Wäscheständer. Dort lag die hyperaktive kampferprobte Mini-Mietze, die es furchtlos mit jedem Gegner aufnahm.
Das letzte Team-Mitglied war der Bengale. Ein Kater mit Muskeln aus Stahl, aber mit dem Mut einer kleinen Maus. Jedes Mal, wenn es nur kleinste Anzeichen einer Gefahr gab, war er in einer dunklen Ecke oder einem Schatten verschwunden. Trotzdem hatte er seine Momente, für die ich schätze. Doch auch dazu werde ich zu einem späteren Zeitpunkt kommen.
Wir formierten uns, nahmen die gesamte Wohnung unter die Lupe. Wir drehten alles von oben nach unten und von links nach rechts, bis wir alles komplett untersucht und durchsucht hatten. Die Spielmaus war nirgendwo zu finden. Wir standen vor einem Rätsel.
Doch plötzlich regte sich etwas in der hintersten Ecke eines Regals, in dem sich die Brettspiele der Menschen befanden.
Die Mini-Mietze war sofort angefixt. Sie legte sich flach auf den Boden, nahm ihr Ziel ins Visier und spannte jeden einzelnen Muskel an. Nur Sekunden später sprang sie los, als wäre sie der Pfeil in einem Bogen gewesen.
Sie krachte in die Pappschachteln, warf sie auf dem Regal. Sie fuhr die Krallen aus, packte zu und verharrte dann unerwartet in ihrer Bewegung.
Ich wurde nervös. Was hatte sie dort entdeckt? Was hielt sie davon ab, den Feind meines Bruders, meines engsten Freundes zu verprügeln?
Wir näherten uns der Mini-Mietze, schoben die Trümmer der Spieleschachteln zur Seite und entdeckten dahinter ein kleines, Eichhörnchenkind, dass die Spielemaus kuschelnd in seinen Pfoten hielt.
»Ich bin hier ganz allein.«, sagte es uns mit ängstlicher, zitternder Stimme. »Ich habe meine Familie verloren.«
Ich seufzte. In diesem Moment spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Diesem kleinen Wesen musste unbedingt geholfen werden. Ich wusste auch schon wie.
Ich schickte die Mini-Mietze zurück unter ihren Wäscheständer. Sie war mächtig enttäuscht, niemanden verprügeln zu können, folgte aber meiner Anweisung. Lord Schweinenase bekam seine Spielemaus zurück, die er sorgfältig in seiner Schatzkiste verstaute.
Der zitternde Bengale hatte sich bereits selbst dazu entschlossen, sich irgendwo zu verkriechen.
Der Mann bekam den Auftrag, eine Schüssel mit Milch und eine Tüte Nüsse aus der Küche zu besorgen, während ich mich um das Findelkind kümmerte. Ich nahm es vorsichtig hoch, setzte es mir auf meinen Rücken, in den es sich sofort vertrauensvoll krallte. Zu zweit machten wir es uns in einer Höhle des Kratzbaums gemütlich und kuschelten gemeinsam die restliche Nacht.

(c) 2021, Marco Wittler


Image by GraphicMama-team from Pixabay

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