1382. Eine Kuh mit Fliegerbrille

Eine Kuh mit Fliegerbrille

»Können wir einen Spaziergang machen?«, fragte Elli. »Es ist so schönes Wetter draußen. Da sollten wir nicht gelangweilt auf dem Sofa sitzen.«
Mama nickte. »Damit habe ich schon gerechnet. Ich habe uns schon einen Picknickkorb gepackt. Wir müssen uns nur noch Schuhe anziehen, dann können wir sofort aufbrechen.
Die Beiden setzten sich ihre großen Sonnenhüte und Sonnenbrillen auf und verließen das Haus.
Schon nach wenigen hundert Metern endete die Stadt. Statt Häusern lagen nun links und rechts der Straße große Felder, Wiesen, Weiden und kleine Wälder. Immer wieder blieb Elli stehen und machte mit ihrem Handy Fotos von kleinen Blumen und Insekten, um sie später ihren Freunden zu schicken.
Unter einer großen Eiche am Waldrand breitete Mama die Picknickdecke aus. Sie aßen leckere Schokomuffins, tranken Kakao und legten sich danach für eine ganze Weile hin, um in den vorbei schwebenden Schäfchenwolken Figuren zu erkennen. Mal sah Mama eine Schnecke, mal Elli einen Teddy oder Drachen. Es war ein unglaublich schöner Nachmittag.
»Schau mal, Mama!«, rief Elli plötzlich begeistert. »Das ist ja irre. Ich sehe eine Kuh, die eine Fliegerbrille vor den Augen und einem roten Schal um den Hals trägt. So etwas Verrücktes habe ich noch nie gesehen.«
Mama stutzte. Eine Kuh mit Fliegerbrille und Schal? Ein roter Schal in einer weißen Schäfchenwolke? »Bist du dir da sicher?« Mama sah hin und her, suchte jede einzelne Wolke ab, konnte aber nichts finden, das einer Kuh auch nur ähnlich sah. »Ich sehe gar keine Kuh. Wo ist sie denn?«
Elli seufzte. »Da drüben. Die ist doch gar nicht zu übersehen. Schau doch mal.«
Mama suchte ein zweites Mal den Himmel ab. Wo sah ihre Tochter denn diesen roten Schal? Für rotes Licht durch die Sonne war es noch viel zu früh. Am Horizont war aber auch kein rotes Haus oder Dach zu sehen. »Du musst dich irren. Ich sehe da nichts.« Mama dachte kurz nach. »Vielleicht habe ich auch einfach nicht genug Fantasie, um die Kuh zu sehen.«
Elli lachte. »Fantasie? Wofür? Die Kuh kann man ganz klar und deutlich sehen.«
Ein letztes Mal blickte Mama über den Himmel hinweg. Sie fand keine Kuh und gab auf. »Ach, da drüben. Ja, jetzt sehe ich sie auch.« Es war ihr schrecklich peinlich, ihre Tochter anzulügen. Sie wollte sich aber auch keine Blöße geben. »Dafür sehe ich jetzt aber eine große Schildkröte, die gerade einen dicken Haufen macht.«
Doch dafür hatte Elli keine Augen. Sie schaute nämlich nicht zum Himmel hinauf, sondern zur Weide, auf der nur wenige Meter entfernt eine Kuh stand, die ein letztes Mal ihre Fliegerbrille kontrollierte, ihren roten Schal mit einer Schleife festzog und ihr zuzwinkerte. Dann hob sie winkend ab und verschwand muhend hinter dem nächsten Hügel.

(c) 2022, Marco Wittler

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