Der alte Flaschenpostbote
Bei Meermann Knut war die Freude groß. Nach einem langen, grauen Winter, war nun die Wolkendecke über dem Meer zum ersten Mal wieder aufgerissen. Das Wetter lud geradezu ein, durch die Straßen der Stadt unter dem Meer zu schwimmen.
Knut zog sich seine Lieblingsjacke an, strich sich den dicken Schnurrbart glatt und verließ sein Haus.
Er war noch nicht weit gekommen, als er Lärm aus einer der vielen Spelunken hörte, die sich vor einer gefühlten Ewigkeit am Stadtrand, in der Nähe des Korallenfeldes und des Seetangwaldes angesiedelt hatten. Von seiner Neugierde getrieben, öffnete Knut die Eingangstür und schwamm ins Innere.
Er hatte sich kaum eine Hand breit in den halbdunklen Raum vorgewagt, vernahm er eine laute, aufgebrachte Stimme, die nur dem alten Flaschenpostboten gehören konnte. Jeder Bewohner der Stadt unter dem Meer kannte ihn, so lange versah er bereits seinen Dienst für das Flaschenpostamt. »Ich hab es satt, Tag für Tag für euch durch die Stadt zu schwimmen. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Daran war der verdammte Stern schuld. Wen immer er aussucht, ist Flaschenpostbote. Seine Wahl fiel damals auf mich, obwohl ich das nie wollte. Er hat mich niemals wieder gehen lassen. Doch damit ist jetzt endgültig Schluss. Ich kündige.«
Der Alte riss sich den orangen Seestern von der Brust und warf ihn quer durch den Raum. Die Anwesenden wichen dem Geschoss verzweifelt aus. Niemand wollte diesen Job übernehmen. Niemand wollte die Flaschenpost austragen. Knut allerdings war viel zu überrascht, um noch reagieren zu können. Der kleine Seestern traf ihn unvermittelt, saugte sich an seiner Brust fest und blickte ihn mit großen Augen an und sprach mit ungewöhnlich tiefer Stimme. »Hallo!« Alle hielten den Atem an.
Knut blickte auf seine Jacke, grinste und antwortete erfreut. »Hallo! Flaschenpostbote Knut. So eine herrliche Idee. Dann kann ich jeden Tag das schöne Wetter und die frische Luft genießen.«
Er schnappte sich die lederne Umhängetasche seines Vorgängers und machte sich sofort auf den Weg, seinen Mitmeermenschen die Flaschenpost zu bringen.
(c) 2023, Marco Wittler
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