1553. Teddy ist verschwunden

Teddy ist verschwunden

»Schmitti, was ist denn mit dir los?« Paul, der gerade zur Tür hereingekommen war, sah seinem besten Kumpel seit Kindertagen sofort an, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Nee, lass mal.«, wehrte Schmitti die Frage sofort ab. »Es ist nichts. Ist alles in bester Ordnung.«
Paul sah seinem Freund direkt in die Augen. »Hör mal. Wir kennen uns jetzt schon seit dem Kindergarten, seit du mir mit der Schüppe auf den Kopf gehauen hast. Das ist jetzt mindestens dreißig Jahre her. Wir sind durch dick und dünn gegangen. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mich so gut kennt, wie du. Umgekehrt ist es auch so. Ich sehe es dir also sofort an, wenn etwas nicht stimmt. Sag schon. Ich höre dir zu und bin für dich da.«
Schmitti seufzte. Er konnte tatsächlich jemanden brauchen, der an seiner Seite stehen würde. Wenn es doch nur nicht so peinlich gewesen wäre.
»Ich … ich … also das ist so …« Er stotterte. »Mir fällt das wirklich nicht leicht. Ich habe ein Geheimnis, von dem ich noch niemandem erzählt habe, nicht einmal dir.«
Paul setzte sich in den Sessel, nickte stumm und zeigte, dass er ganz Ohr war.
»Ich … ich habe einen Teddybären, der mich überall hin begleitet. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse, steckt er in meiner Tasche. Ich habe ihn von meiner Oma zur Geburt bekommen. Schon deswegen ist er mir so wertvoll.« Schmitti sah auf. Seine Wangen waren stark gerötet. Die Situation war ihm sehr unangenehm. »Ach vergiss es einfach wieder. Ich mache mich hier gerade zum Vollidioten.«
Paul sah ihn mit versteinerter Miene an, bevor er breit zu grinsen begann. Er griff in seine Tasche, zog einen Schlüsselbund hervor, an dem eine kleine, gelbe Plüschente hing. »Das ist Herrmann. Den gebe ich niemals aus der Hand. Den hab ich mit zwei Jahren auf dem Spielplatz gefunden und ihn direkt adoptiert. Jetzt kennst du auch mein größtes Geheimnis.«
Die Männer sahen sich an, begannen gleichzeitig zu lachen und fielen sich in die Arme. Sie waren sich sofort einig, dass man auch als Erwachsener Plüschtiere mögen und toll finden durfte.
»Und was ist jetzt mit deinem Teddy?«, wollte Paul wissen und sah sich suchend um. »Wo hat er sich versteckt? Ist er etwas ängstlich? Eigentlich sollte er mich doch schon so lange kennen, auch wenn er immer in deiner Tasche gesteckt hat.«
Schmitti ließ die Schultern und den Blick sinken. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und zog sie nach außen. Sie waren leer.
»Das ist ja mein großes Problem. Teddy ist nicht mehr da. Er ist verschwunden. Ich war nur kurz mit der Straßenbahn beim Einkaufen. Als ich wieder hier war, war Teddy weg. Ich vermisse ihn so sehr. Ich weiß gar nicht, was ich ohne ihn machen soll. Und dabei ist bald Weihnachten. Das wird richtig traurig für mich.« Er schniefte laut und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers unter der Nase her.
Paul stand nun ebenfalls auf, packte seinen Freund am Arm und zog ihn hinter sich her. »Los, komm. Wir machen uns sofort auf die Suche. Je eher, desto größer die Chance, dass wir ihn wiederfinden. Wir müssen nur deinen Weg Schritt für Schritt in umgekehrter Reihenfolge wiederholen.«

Sie machten sich sofort auf den Weg. Sie suchten die Gehwege und die Straßen ab, blickten in jeden Gullydeckel und unter jeden Busch. Nirgendwo war der Teddy zu finden.
Die Männer setzten sich an die nächste Haltestelle und warteten auf die Straßenbahn, die nur wenige Minuten später eintraf. »Nein, nein. Das ist nicht der richtige Zug. Diese hier macht Werbung für Milch. Bei mir war ein Sonnenblumengraffiti aufgesprüht.«
Sie warteten also weiter. Eine ganze Stunde blieben sie an der Haltestelle sitzen, bis es so weit war. Sie stiegen in den Wagen.
»Wir haben genau drei Haltepunkte, bis wir wieder aussteigen müssen. Es bleibt also nicht viel Zeit.« Also teilten sie sich auf. Schmitti suchte links, Paul rechts. Bis zum Ausstieg hatten auf und unter allen Bänken nachgesehen, aber hatten nichts gefunden.
Nun standen sie wieder auf der Straße. Es waren nur wenige Meter bis zum Supermarkt. Auch hier war Teddy nicht zu sehen. »Bist du sicher, dass du ihn hier noch hattest?«
Schmitti nickte. »Ich hab meine Geldbörse eingesteckt. Dafür musste ich nur kurz meinen Schlüssel aus der Tasche ziehen. Da war Teddy noch da. Aber danach kann ich mich nicht mehr an ihn erinnern. Es muss hier auf der Straße passiert sein.« Er seufzte schwer. »Dann ist er für immer verschwunden.«
Paul legte seinem Freund den Arm über die Schultern. »Ich bin für dich da. Ich lass dich jetzt nicht allein. Lass uns nach Hause fahren.«
Sie drehten um, wollten auf die nächste Straßenbahn warten, als Schmitti etwas im Augenwinkel wahrnahm. »Da ist er. Da ist Teddy.« Er zeigte auf ein Fenster. »Er sitzt dort auf der Fensterbank. Wie kommt er dort hin? Jemand muss ihn eingesteckt haben.«
Ein Kind kam zum Fenster, griff nach Teddy und verschwand wieder in den Tiefen des Raums, ohne nach draußen gesehen zu haben. Schmitti und Paul blickten auf. »Das ist das Waisenhaus. Hier leben Kinder, die keine Eltern haben.« Sie holten beide tief Luft. »Teddy hat sich zu Weihnachten auf den Weg gemacht, ein anderes Kind glücklich zu machen. Ich glaube, er ist hier besser aufgehoben, als in meiner Hosentasche.«
Sie setzten sich in die Straßenbahn. Paul zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche und blickte auf seine Ente Herrmann. Dann reichte er sie Schmitti rüber. »Es ist bald Weihnachten und ich kann dich nicht so unglücklich sehen. Herrmann ist mir eines Tages über den Weg gelaufen und hat mich glücklich gemacht. Heute macht er dich glücklich. Er gehört dir.«
Schmitti schluckte. »Danke. Du bist der Allerbeste.«

(c) 2023, Marco Wittler

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