1567. Waldpiraten

Waldpiraten

Es war still im großen Zauberwald. Die großen und kleinen Insekten lagen in ihren Betten. Die Monster, die man tagsüber in allen Farben des Regenbogens sehen konnte, schliefen tief und fest unter ihren kuschelig warmen Decken. Selbst der Wind war noch weit im Traumland gefangen.
Doch plötzlich war ein Quietschen und ein Knarzen zu hören. In der Mitte einer dicht bewachsenen Baumkrone öffnete sich ein gut getarntes Tor. Es schwang weit auf, bis es gegen einen dicken Ast krachte und dort hängenblieb. Eine Maschine sprang an. Ketten rasselten. Ein breiter, langer Steg aus Holz wurde ausgefahren. Dann wurde es wieder still.
Irgendwo in Ferne begann ein Wecker zu klingeln. Es war Zeit, aus den Federn zu kriechen. Der Wind schaltete ihn ab, öffnete seine Fenster und wehte nach draußen. Laut lachend stürmte er zwischen den Bäumen hindurch, zog an Blättern und Zweigen und ließ sich von niemandem mehr aufhalten.
»Der richtige Zeitpunkt ist da. Wir können starten.« Aus der Dunkelheit, die sich hinter dem versteckten Tor befand, waren begeisterte Stimmen zu hören. »Setzt die Segel. Beeilt euch, damit wir den Wind nicht verpassen.«
Kräftige Hände packten zu, schoben ein Schiff nach draußen. Mehrere kleine Monsterchen sprangen an Bord, während ihr Schiff auf Rollen auf der ausgefahrenen Rampe nach unten fuhr und immer schneller wurde. Im letzten Augenblick, kurz bevor es in die Tiefe stürzte, blies der Wind in die Segel und hob es hinauf in die Lüfte.
Laut jubelnd zog ein Matrose eine schwarze Flagge mit Schädel und Gebeinen am Masten nach oben. Die Waldpiraten gingen auf Kaperfahrt.
Mit Handgriffen, die sie über lange Jahre eingeübt und immer wieder verbessert hatten, zogen die Monsterchen die Segel an Seilen hin und her, während der Käpt’n da Steuerrad mal nach links und mal nach rechts riss.
Es ging vorbei an dicken Stämmen und dünnen Ästen. Sie flogen über Büsche hinweg und über Bäche. Die Piraten hatten alle Hände voll zu tun. Denn unterwegs griffen sie immer wieder mit flinken Bewegungen in die Bäume, schnappten sich unter den erschrockenen Augen manch Baumbewohner, was sie in die Finger bekamen und füllten langsam den Bauch des Schiffes.
»Das reicht!« Der Käpt’n stoppte seine fleißige Mannschaft. »Wir werden zu schwer. Wenn wir noch mehr Beute machen, kann uns der Wind nicht mehr tragen und wir stürzen ab.«
Das Piratenschiff wendete und kreuzte nun gegen den Wind zurück zum Versteck, wo es kurz darauf die Rampe hinauf fuhr und festgemacht wurde.
In großen Säcken luden die Piraten ihre Beute aus. Doch statt diese zu verstecken oder sicher wegzuschließen, verließen sie mit ihr das Versteck. Geschickt liefen sie über die dicken Äste und verteilten sich im ganzen Baum, in dem sich viele Kobel befanden, die man von außen nicht sehen konnte. Einen von ihnen betrat der Käpt’n höchstpersönlich.
»Das Frühstück ist da, mein Freund.« Ich hoffe, dass du in der Nacht gut geschlafen hast und es dir noch besser geht.«
Ein altes Eichhörnchen erhob sich aus seinem Sessel und kam vor freudestrahlend auf den Piraten zu. »Wie schön, dass du da da bist. Ich freue mich schon sehr, dass wir den Tag gemeinsam verbringen werden, zusammen speisen und ich dir Piratengeschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählen darf.«
Der Käpt’n öffnete seinen Beutesack, kippte frisch gepflückte Haselnüsse auf den Tisch und setzte sich. Auf diesen Moment freute er sich jeden Tag. Das war das allerbeste am Piratenleben, wenn seine Mannschaft und er die alten Freibeuter versorgten und ihnen die Zeit vertreiben konnten.

(c) 2024, Marco Wittler

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