Käpt’n Crabb und die Fliegende Ratte
Dunkelheit.
Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, denn das so übliche fahle Licht des Mondes und der Sterne am Himmel wurde von dicken Wolken aufgehalten.
Stille.
Kein Tier ließ seine Laute vernehmen. Kein Wagen fuhr auf den Straßen. Selbst der Wind rührte sich nicht.
Leere.
In der Stadt, auf den Straßen und hinter den unbeleuchteten Fenstern ließ sich niemand blicken. Es war, als läge alles in einem ewig währenden Dornröschenschlaf. Es hätte eine ruhige Nacht werden können, wie man es aus anderen Nächten gut kennt, wenn da nicht …
Plötzlich änderte sich das Wetter. Ein kräftiger Wind zog aus, zerriss die Wolkendecke und gab den Weg für das Mondlicht frei. Das Laub der Bäume begann laut zu rascheln und hätte beinahe einen lauten Ruf verdeckt.
»Alle Mann an Bord!«, rief der Käpt’n.
»Du hast mich vergessen!«, antwortete ihm eine knurrige Stimme.
Der Käpt’n räusperte sich, versuchte seinen Fehler zu überspielen. »Und alle Frauen natürlich auch. Macht das Schiff startklar, setzt die Segel. Wir gehen auf Kaperfahrt.«
An Bord des Piratenschiffs johlten die Freibeuter und auch die Freibeuterinnen. Alle wussten, wo sich ihre Plätze befanden. Innerhalb weniger Minuten strafften sich die Segel, der Jolly Roger flatterte im Wind und die Kanonen wurden mit Munition beladen. Die Fliegende Ratte, das Schiff des berüchtigten Piraten Crabb setzte sich in Bewegung und verließ das Versteck, das sich in einer kleinen Höhle befand, deren Eingang sich zwischen eng stehenden Felsen befand. Die Steuerfrau hätte das Schiff mit Leichtigkeit mit verbundenen Augen hinaus fahren können, so oft hatte sie die schmale Passage bereits durchquert. Sie wartete auf den richtigen Zeitpunkt, strich sich ihre Haare im Gesicht glatt und riss das Steuer herum.
Die Mannschaft, die komplett aus Ratten bestand, löste die Seilknoten der Takelage. Die Segel schwenkten in den Wind. Die Fliegende Ratte bog in den Fluss ein, der sie innerhalb kürzester Zeit ins Zentrum der Stadt bringen sollte.
Der Matrose im Ausguck, der sich an der Spitze des höchsten Mastes befand, rief ununterbrochen Kommandos zur Brücke. »Backbord … jetzt wieder Steuerbord. Vorsicht! Da sind die Bäume.«
Das kleine Piratenschiff navigierte an jedem Hindernis vorbei, durchpflügte Stromschnellen und überwand Untiefen, die ein Mensch zu Fuß hätte überqueren können, ohne nasse Knöchel zu bekommen. Ein solcher hätte die Fliegende Ratte wohl für ein verloren gegangenes Spielzeug gehalten, das nun unweigerlich durch Flüsse und Ströme zum offenen Meer trieb. Doch das wahre Ziel war ein anderes.
Käpt’n Crabb blickte auf den Stadtplan, den er vor vielen Jahren auf dem Marktplatz gefunden hatte. Diese Entdeckung hatte den Freibeuter in ihm geweckt.
»Gebt acht!«, rief über das Schiff hinweg. »Wir sind gleich da und gehen vor Anker.«
Die Steuerfrau lenkte die Fliegende Ratte näher an das Ufer. Die Segel wurden eingeholt. Jetzt wurde das Schiff nur noch von der Flussströmung getragen.
»Jetzt!«
Der Anker klatschte ins Wasser. Die schwere Kette, an der er hing, rasselte durch eine Loch in der Schiffswand. Er fand Halt zwischen mehreren Steinen. Die Fliegende Ratte hielt augenblicklich an.
Die Ratten fuhren eine Holzplanke aus und schlichen an Land. »Ihr wisst, worum es geht. Ihr wisst, was auf dem Spiel steht. Verhaltet euch ruhig, gebt keinen Mucks von euch. Ich will nicht, dass wir entdeckt werden und auffliegen. Wenn unser Plan nicht funktioniert, haben wir ein großes Problem.«
Auf kleinen Pfoten folgten die Piraten ihrem Käpt’n, der sein Ziel genau im Augen hatte. Sie liefen durch die Straßen, durch kleine Gassen, hielten Abstand von den Gaslaternen und blieben im Schatten, bis sie vor einem großen Gebäude Halt machten.
»Meine Freunde, wir sind am Ziel angekommen. Hinter diesen dicken Mauern wartet der größte Schatz, den ihr euch nur vorstellen können. Er ist unermesslich groß, so groß, dass wir nur einen kleinen Teil davon erbeuten und in unser Versteck bringen können. Wählt weise, was ihr mit an Bord nehmt und was zurückbleibt für einen späteren Raubzug.«
»Aye, aye, Käpt’n!«, flüsterten sie und schlichen sich durch ein offen stehendes Kellerfenster in das Gebäude.
Unbemerkt liefen sie die Treppen hinauf und herunter, stöberten in allen Räumen, bekamen große Augen, weil sie die Fülle an Reichtum kaum fassen konnten und wählten die ganz besonderen Schätze aus. Sie stopften sie in mitgebrachte Säcke und trugen sie auf ihren Rücken hinaus ins Freie.
»Es wird Zeit aufzubrechen.« Dem Käpt’n juckte die Nasenspitze. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Nacht schon bald ihrem Ende zuneigen würde. »Wir müssen los, damit uns die Menschen nicht entdecken.«
In Windeseile war der Fluss erreicht, die Beute im Bauch der Fliegenden Ratte verstaut. Nun mussten sie alle gemeinsam anpacken. Geschickt zogen sie das Schiff aus dem Fluss. Dabei offenbarte sich etwas ganz Besonderes, das es so bei keinen anderen Piraten gab. Unter dem Kiel befand sich ein altes Skateboard, das Crabb ebenfalls vor langer Zeit in den Straßen der Stadt gefunden hatte.
Sie stiegen wieder an Bord. Die Segel wurden gesetzt. Nun fuhr die Fliegende Ratte mit hohem Tempo über die Gehwege, bis die Steuerfrau das Schiff kurz hinter der Höhle zur Seite riss. Das Schiff raste über eine Klippe hinweg, klatschte ins Wasser. Sie hatten die Kaperfahrt erfolgreich zu Ende gebracht und fuhren zurück in die sichere Höhle.
Käpt’n Crabb sprang als erster von Bord. Mit großer Begeisterung ließ er sich von seinen Piraten zeigen, welche Schätze sie aus der Bibliothek gestohlen hatten und las die Buchtitel laut vor. »Der kleine Wassermann. Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär. Das ist mein absoluter Favorit. Oh, und hier haben wir die kleine Meerjungfrau.« Er blätterte kurz durch den Comic über Schwarzbart den Piraten.
»Es ist angerichtet. Bringt nun die Kinder zu mir.«
Eine schwere Tür öffnete sich knarzend. Kleine jubelnde Rattenkinder stürmten herein und setzten sich im Halbkreis vor Crabb auf den Boden. »Es ist wieder so weit, meine kleinen Freunde. Endlich kann ich euch neue Geschichten vorlesen.« Er griff zum ersten Buch, klappte den Einband auf und begann. Die leuchtenden Kinderaugen hingen an seinen Lippen. Ihm selbst wurde es ganz warm ums Herz. Ein weiteres Mal spürte er tief im Innern, dass das Leben als Buchpirat ihn mehr erfüllte, als alles andere.
(c) 2024, Marco Wittler
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