1593. Das letzte Rennen der Saison

Das letzte Rennen der Saison

Es knackte im Lautsprecher, als das Radio eingeschaltet wurde. Während Fritzi am Regler drehte, um den richtigen Sender zu finden, wechselten sich Sprache, Musik und Rauschen gegenseitig ab. Manchmal waren sie sogar gleichzeitig zu hören.
»Herzlichen Willkommen, meine Damen, meine Herren, und alle anderen, die gern anders angesprochen werden möchten. Ich heiße zum diesjährigen Finale im Fliegenrennen willkommen. Unsere Teilnehmer haben sich bereits in den letzten Monaten in zwanzig Turnieren gezeigt, was sie drauf haben und wie viel Einfallsreichtum sie besitzen.«
Der Kommentator schien ein paar Notizen zur Hand zu nehmen, denn es raschelte kurz. »Ich wiederhole noch einmal die Regeln, wenn sie uns das erste Mal zuhören. Den Teilnehmern werden die Flügel mit einem Gurt am Körper befestigt. Hilfsmittel sind aber erlaubt und gern gesehen. Je spektakulärer, des besser und aufregender. Wer zuerst das Ziel in einhundert Metern Entfernung erreicht, bekommt den Pokal.«
Er senkte seine Stimme. »Leider wird heute Fritzi Flügelschlag nicht mit an den Start gehen. Er hat sich beim letzten Rennen einen waghalsigen Stunt versucht und flog mit einem Löwenzahnsamen als erster über die Ziellinie. Leider ergriff ihn dabei eine Windbö und schleuderte ihn gegen einen Baum. Er zog sich dabei Prellungen beider Arme zu, die er im Falle eines Absturzes nutzen müsste, um den Flügelgurt zu lösen und sich in eine Disqualifikation zu retten. Wir wünschen ihm an dieser Stelle alles Gute und viel Glück auf den Pokal im nächsten Jahr.«
Fritzi drückte den Schalter des Radios. Der Kommentator verstummte augenblicklich. »Ich hätte den Mist gar nicht erst einschalten sollen. Jetzt bin ich nur frustrierter.«
Im Finale nicht dabei sein zu können, das war Fritzi noch nie passiert. Zehn Jahre in Folge hatte er den Titel geholt, so oft wie keine andere Fliege.
»Ich kann doch nicht einfach hier sitzenbleiben und zuhören, wie jemand anderes den Sieg holt. Mir fehlt nur noch ein Punkt in der Wertung. Es würde sogar reichen, wenn ich nur als Zehnter ins Ziel komme.«
Er stampfte mit zwei Beinen gleichzeitig auf, was ihn ziemlich aus dem Gleichgewicht brachte. Fritzi stolperte rückwärts, stieß gegen ein Regal und konnte gerade eben einen seiner Pokale auffangen, bevor dieser sich am Boden eine Beule holen konnte.
»Ich muss was unternehmen. Ich halte das nicht aus.«
Fritzi packte seine Sachen und verließ das Haus. »Ich weiß noch nicht, wie, aber auf dem Weg wird mir schon etwas einfallen.«
Der Flug ins Stadion kam ihm schrecklich lang vor. Es schien, als hätten sich die vier Winde aller Himmelsrichtungen gegen ihn verschworen, so sehr blies es von allen Seiten. Mit letzter Kraft landete Fritzi am Eingang. Über die Lautsprecher hörte er bereits den Countdown. Es bleiben nur noch zehn Sekunden.
ZEHN.
Fritzi spurtete los, so schnell ihn seine kleinen Füße tragen konnten.
NEUN.
Unter Schmerzen zog er sich mit den geprellten Armen den Flügelgurt über, um nicht schon zu Beginn disqualifiziert zu werden.
ACHT.
Er durchquerte den Eingang, lief durch einen langen Tunnel, durch den ein kleiner Bach geleitet wurde, an dessen Verlauf die Rennstrecke angelegt war.
SIEBEN.
Nun griffen die anderen Fliegen zu ihren Fluggeräten. Fritzi wusste genau, dass Kalle Karacho, der dicke Brummer, wie immer zwei Ahornsamen als Segel nutzen würde.
SECHS.
Sieglinde Sechsarm, das hatte er über gemeinsame Freunde erfahren, nutze erstmals ein Gänseblümchen wie einen Flugschirm. Schon allein dafür würden ihr die Herzen vieler jungen und romantischen Fliegen gehören.
FÜNF.
»Verdammt nochmal! Ich habe einfach keine Idee. Ich brauche dringend ein schnelles Gerät.«
VIER.
Es war unmöglich, die Startlinie rechtzeitig zu erreichen. Es brauchte ein Wunder, um Fritzi die Meisterschaft noch zu sichern.
DREI.
Es nutzte alles nichts. Jetzt konnte nur noch ein Trick helfen. Fritzi schnappte sich einen etwas breiteren Grashalm, warf ihn auf den Bach und sprang auf ihn.
ZWEI.
In wilder Fahrt trug ihn das Wasser auf den Start zu. Er konnte sehen, wie der Schiedsrichter die Hand mit der Startpistole hob.
EINS.
Plötzlich ging ein Raunen durch das Stadion, das schnell in lauten Jubel überging. Die Zuschauer hatten Fritzi Flügelschlag entdeckt und erkannt. Seine Konkurrenten sahen sich ungläubig um, rissen die Augen auf. Ihnen klappten die Münder herunter.
NULL.
Der Schiedsrichter drückte den Abzug. Aus der Pistole ertönte ein lautes Plopp und eine gelbe Hahnenfußblüte erschien. Das Rennen hatte begonnen. Fritzi fuhr über die Startlinie und an allen seinen Gegnern vorbei.
»Mist!« Kalle Karacho warf wütend seine Ahornblätter auf den Boden, wurde sich aber sofort seines Fehlers bewusst und hob sie wieder auf. Er holte tief Luft, blies hinein und hob ab. Sofort nahm er die Verfolgung auf.
Sieglinde Sechsarm hielt verzweifelt ihr Gänseblümchen in die Höhe, aber ausgerechnet jetzt, regte sich kein Lüftchen mehr, um sie fortzutragen. Verzweifelt griff sie zu den Blütenblättern und riss sie einzeln ab. »Der Wind hilft mir. Der Wind hilft mir nicht. Der Wind hilft mir. Der Wind hilft mir nicht.«
Er half ihr natürlich nicht. Nach ein paar Sekunden, sie konnte die anderen Rennteilnehmer schon nicht mehr sehen, hielt sie nur noch einen nackten Stiel in der Hand. Auf diesen Moment schien der Wind nur gewartet zu haben. Er blies einmal kräftig durch das Stadion und schien Sieglinde auszulachen.
Den Sportkommentator hielt es nicht mehr auf seinem Platz. Er packte das Mikrofon und sprang auf. »Verehrte Fliegen, das hat die Welt noch nicht gesehen. Wie aus dem Nichts ist Fritzi Flügelschlag aufgetaucht. Trotz seiner schweren Armprellungen ist er in das letzte Rennen der Saison eingestiegen und kämpft nun um seinen elften Pokal. Dabei hat er sich ein sehr ungewöhnliches Gefährt ausgedacht. Er fährt über den Bach und lässt sich vom Wasser treiben. Die Idee ist so einfach wie genial. Es wundert mich, dass in der langen Geschichte des Fliegenrennens, niemals jemand den Bach genutzt hat. Wir Fliegen denken einfach zu viel in der Luft und wollen sie mit allen Mitteln nutzen.«
Fritzi Flügelschlag sah sich immer wieder um. In der Luft hatte er immer eine gewisse Kontrolle über seine Fluggeräte, konnte steuern, konnte notfalls bremsen. Dem Wasser aber war er hilflos ausgeliefert. Er sah sich immer wieder um. Kalle Karacho war sein stärkster Gegner. Wenn ihm jemand gefährlich werden konnte, dann der dicke Brummer.
Trotz dem Fehlstarts kam ihm Kalle schnell näher. Die Ahornsamen waren die richtige Idee gewesen. Er konnte sie fast so gut nutzen, wie echte Fliegenflügel. Seine durchtrainierten Muskeln halfen ihm zusätzlich.
»Jetzt nur nicht nachlassen. Komm schon, Bach. Lass mich jetzt nicht im Stich.
Vor dem wild schaukelnden Grashalm tauchte eine große Forelle aus dem Wasser auf. Fritzi bekam Panik. Schlagartig wurde ihm bewusst, warum er das Wasser nie gemocht hatte. Schlug nun sein letztes Stündchen? Würde ihn der riesige Fisch mit einem Happen fressen?
»Hey!«, rief die Forelle. Man konnte große Begeisterung in ihrer Stimme hören. »Bist du nicht Fritzi Flügelschlag? Ich bin dein größter Fan.«
Eine Forelle? Größter Fan? Fritzi lächelte schief. Nun konnte der Tag nicht mehr krasser werden.
»Du musst dich beeilen. Kalle Karacho überholt dich gleich. Das Wasser in meinem Bach ist zu langsam. Er wird gewinnen.«
Die Forelle tauchte ab, kam unter dem Grashalm wieder hoch und schwamm, so schnell sie nur konnte.
»Meine Damen und Herren, das Rennen entwickelt sich zu einem wahren Krimi.« Der Kommentator schrie nun in sein Mikrofon. »Sah es eben noch danach aus, dass Kalle Karacho den Sieg für sich verbuchen könnte und selbst weitere Teilnehmer den Champion überholen, hat Fritzi Flügelschlag nun sein Transportmittel gewechselt. Ein Fisch, ein wahres Fliegen fressendes Monster, hat den Publikumsliebling nicht verschlungen, es trägt ihn auf seinen Rücken. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Nun scheint die Titelverteidigung in greifbare Nähe zu rücken. Es sind nur noch wenige Meter bis ins Ziel.«
Fritzi hielt sich an den Schuppen der Forelle fest. So schnell war er noch nie in einem Rennen unterwegs gewesen. Es sah alles nach einem neuen Streckenrekord aus, dem ersten in seinem Leben.
Sie überquerten das Ziel. Der Fisch warf Fritzi an Land und spuckte mit seinem Maul eine hohe Wasserfontäne aus.
Fritzi, befreite sich vom Flügelgurt und hielt ihn jubelnd in die Höhe. Nicht nur seine Fans, das ganze Publikum rastete völlig aus.
Fritzi lief zur Sprecherkabine, nahm dem Kommentator das Mikrofon ab und sprach, was ihm spontan einfiel.
»Mein Opa hat mir immer gesagt, dass man niemals aufgeben darf, dass man immer an seine träume glauben muss. Nach meinem Unfall habe ich aufgegeben. Während ich mich noch darauf einstellte, das letzte Rennen der Saison am Radio mitverfolgen zu müssen, wurde mir klar, dass ich kämpfen muss, nicht gegen Kalle Karacho, gegen Sieglinde Sechsarm oder all die anderen. Ich musste gegen mich selbst kämpfen, gegen meine Ängste und gegen das aufgeben wollen. Aber am Ende hat es sich ausgezahlt.«

(c) 2024, Marco Wittler

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