288. Laufen

Laufen

»Los, lass uns um die Wette laufen.«, schlug Nico vor.
Sein jüngerer Bruder Christian verdrehte die Augen.
»Du weißt doch, dass ich viel kürzere Beine hab. Wie soll ich denn gegen dich gewinnen?«
Aber er nahm die Herausforderung trotzdem an. Das tat er immer.
»Auf die Plätze, fertig, los.«, rief Nico und schon rannten sie, so schnell sie konnten.
Als sie um die erste Ecke bogen, lag Christian schon ein paar Meter zurück. Nach der zweiten und dritten war es bereits mehr. Doch in der letzten Kurve lag er schon so weit zurück, dass er nicht einmal mehr sehen konnte, wie sein Bruder im Ziel ankam.
»Das ist so unfair.«, keuchte Christian.
Du bist viel größer als ich. Ich werde nie gegen dich gewinnen. Und du nutzt das jedes Mal aus. Du bist echt gemein.«
Doch die Beschwerden nutzten nichts. Nico stand da und lachte einfach nur.
»Wart ab, du Zwerg. Morgen machst du ja doch wieder mit. Du bist halt der geborene Verlierer.«
So ging es jeden Tag. Bei gutem Wetter waren die beiden Jungen draußen und liefen irgendwann um die Ecke. Am Ende grinste Nico über das ganze Gesicht, während Christian weinend nach Hause lief. Mama schimpfte dann immer mit ihrem älteren Sohn, was aber auch nichts nutzte.
»Eines Tages werde ich dich schlagen und dann lache ich ausnahmsweise mal über dich.«, murmelte Christian, bevor er ins Haus ging.

In den nächsten Tag regnete es. Die zwei Brüder verbrachten ihre Freizeit in ihrem Zimmer. Nico spielte viel mit seinem Computer, während Christian über eine List nachdachte.
»Was grübelst du denn den ganzen Tag?«, fragte Nico schließlich, als es ihm zu bunt wurde.
»Du wirst mich doch eh niemals besiegen. Also hör lieber auf zu denken, bevor dein Kopf zu rauchen beginnt.«
Doch Christian ließ sich nicht beirren.
»Ich werde dich besiegen. Schon Morgen, wenn der Regen verschwunden ist. Dann treffen wir uns um drei Uhr auf dem Gehweg.«
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Der nächste Tag war wirklich viel schöner. Die Wolken rissen auf und die ersten Sonnenstrahlen kamen durch.
Nico sah auf seine Uhr. Es war drei Uhr Nachmittags. Doch der kleine Bruder war nirgendwo zu sehen.
»Das hab ich mir doch gleich gedacht. Der Zwerg ist zu feige.«
Doch da irrte er.
»Meinst du mich?«, war da plötzlich Christians Stimme von oben zu hören.
Er saß hoch oben in einem Baum auf einem dicken Ast.
»Los, bringen wir es hinter uns.«
Mit diesen Worten kletterte er herunter und zog sich die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht.
Nico musste lachen.
»Was soll denn der Quatsch? Meinst du wirklich, dass du schneller bist, wenn du nichts mehr siehst?«
Aber Christian ging nicht darauf ein.
»Wir laufen quer durch das Maisfeld. Wer als erster auf der anderen Seite angekommen ist, hat gewonnen.«
Damit war Nico einverstanden. Er setzte sogar noch einen oben drauf.
»Der Verlierer muss für Mama einen Monat lang den Abwasch machen. Spülmaschine ist nicht erlaubt.«
Christian nickte knapp. Dann gab er das Startkommando.
»Achtung, fertig, los.«
Beide rannten sie los und verschwanden zwischen den mannshohen Maispflanzen. Nach wenigen Sekunden waren sie so weit auseinander, dass sie sich nicht mehr sehen konnten.
»Der Wicht glaubt wohl, dass mich der Mais bremst. Aber er muss auch hier durch.«
Nico war sich siegessicher und lief so schnell er konnte.
Nur noch ein paar Schritte und er hatte das Feld durchquert.
»Erster.«, rief er auf der anderen Seite.«
Doch zu seinem großen Erstaunen entdeckte er den kleinen Jungen mit der Kapuzenjacke, der oben auf einem Stapel Baumstämme saß.
»Das kann doch gar nicht wahr sein. Da stimmt doch etwas nicht.«, brüllte Nico.
»Du kannst nicht gegen mich gewinnen. Das ist nicht normal und darf nicht sein. Los, wieder zurück.«
Und ohne auf seinen Bruder zu warten spurtete er erneut los und rannte wieder durch das Maisfeld zum Startpunkt. Dort angekommen erlebte er die nächste Überraschung. Christian hockte auf der Eingangstreppe ihres Wohnhauses.
»Aber du hast doch grad noch… Wie kommst du… … nicht möglich.«
Nico brachte keinen vollständigen Satz heraus. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit.
»Nochmal.«
Er setzte zum dritten Wettlauf an, dann folgte ein vierte, fünfter und sechster. Jedes Mal kam er nur als Zweiter ins Ziel.
»Kaputt. Fertig.«
Waren die einzigen Worte, die er zum Schluss noch sprechen konnte, bevor er sich neben dem Gewinner auf die Treppe setzte.
»Dann viel Spaß beim Spülen, großer Bruder.«
Und schon verschwand Christian im Haus. Im Gegensatz zu Nico war er nicht aus der Puste.
»Wie hat der Zwerg das nur gemacht?«

Am Abend räumte Christian seine Laufsachen in den Schrank. Die Schuhe in das unterste Regal, seine Kapuzenjacke auf einen Kleiderbügel. In diesem Moment kam seine Schwester Nikola herein.
»Warum wolltest du dir eigentlich meine Puppe heute Nachmittag ausleihen?«, fragte sie neugierig.
»Um warum trägt sie deine zweite Kapuzenjacke?«
Christian grinste.
»Das kann ich dir nicht verraten. Aber du hast was gut bei mir, wenn die Nico mal zum Wettrennen herausfordert.

(c) 2009, Marco Wittler

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