761. Himmel voller Geister

Himmel voller Geister

Robert war müde. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet und war nun froh, endlich nach Hause gehen zu können.
Er blickte auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr, sah, wie sich die drei Zeiger bemühten, sich gleichmäßig im Kreis zu drehen. Es war spät geworden.
»Puh!«, seufzte Robert. »Es muss draußen schon dunkel sein. Hoffentlich verlaufe ich mich nicht wieder.«
Er dachte mit Grauen an seinen letzten Heimweg nach Sonnenuntergang.
Damals waren mehrere Laternen gleichzeitig ausgefallen und Robert war deswegen an einer Kreuzung geradeaus gegangen statt abzubiegen. Das hatte er dann auch erst nach einer halben Stunde bemerkt.
Robert verließ seinen Arbeitsplatz, verschloss sorgfältig die Tür hinter sich und trat dann auf den Gehweg.
»Du musst dich konzentrieren!«, sagte er zu sich selbst. »Du musst dich auf deinen Weg konzentrieren!«
Robert ging los. Er machte große schnelle Schritte, dachte dabei pausenlos an seine Frau, die bereits mit dem Abendessen auf ihn wartete. Es sollte Klöße mit Gemüse und einer leckeren Soße geben – Roberts Lieblingsessen.
»Ich kann das schaffen. Nein! Ich werde das schaffen.«, sagte sich Robert immer wieder. »Ich werde mich nicht wieder verlaufen.«
Er sah sich immer wieder unsicher um. Verfolgte ihn jemand? Hörte er da etwa ferne Schritte, die rasch näher kamen?
»Nein, nein, nein. Da ist niemand. Es wird hier niemand auftauchen, die mir ans Leder will. Ich bin völlig sicher und es wird mir nichts passieren.«
Robert warf wieder einen Blick auf seine Armbanduhr. Von den dreißig Minuten, die er nach Hause brauchen sollte, musste er doch mittlerweile den größten Teil geschafft haben.
»WAS? Ich bin erst seit sechs Minuten unterwegs? Das kann doch gar nicht sein. Ist etwa meine Uhr stehen geblieben?«
Nein. Die Zeiger drehten sich noch immer im Kreis, ohne jemals stehen bleiben zu wollen.
Robert ging schneller. Es wurde ihm auf dem Gehweg immer unheimlicher. Mittlerweile meinte er sogar, dass er fremde Stimmen hören konnte. Auch wenn er nichts und niemanden sehen konnte, irgendwer musste hier sein. Es konnte gar nicht anders sein.
Plötzlich war es ihm, als wenn Nebel vom Himmel herab fiel. Zuerst war es nur ein einzelnes, kleines Nebelfeld, das nicht größer als eine Baumkrone war. Kurz darauf kam ein Zweites vom Himmel herab, dann ein Drittes. Es wurden immer mehr, die die Straße nun bevölkerten.
»Was hat das zu bedeuten?«, bekam Robert nun Panik.
In den vielen kleinen Nebelfeldern öffneten sich je zwei dünne Schlitze, die rasch größer und runder wurden. Es musste sich um Augen handeln, denn in ihnen waren Pupillen zu erkennen, die sich suchend umsahen.
Robert bekam Todesangst. Er duckte sich, versteckte sich hinter einem Baum. Er kauerte sich ganz nah an den Stamm und zog die Beine eng an sich.
»Ich werde bestimmt sterben, wenn sie mich entdecken.«, flüsterte er sich selbst zu.
»Geister sind gefährlich und gar nicht gut auf Menschen zu sprechen.«
Robert blickte immer wieder mit einem Auge hinter dem Baum hervor.
Mittlerweile war die Straße voll mit den vom Himmel gefallenen Geistern. Ein Spaziergänger hätte unmöglich unbemerkt zwischen ihnen her gehen können, ohne einen von ihnen zu berühren.
»Was wollen die denn hier?«, wunderte sich Robert. »Was machen sie hier auf der Straße?«
Und das war der Moment, in dem es geschah. Robert wurde von den Geistern entdeckt.
»Wir wurden entdeckt!«, rief einer der Geister. Aus seinem Nebel bildete sich ein Arm heraus, mit dem er in Roberts Richtung wies.
Die Geister setzten sich in Bewegung, kamen auf den Menschen zu. Sie umzingelten ihn und kamen immer näher. Sie machten erst halt, als sie Robert vollständig eingekreist hatten und er keine Möglichkeit mehr zur Flucht hatte.
»Nein, nein, nein!«, schrie Robert vor Angst. Er bangte um sein Leben.
»Bitte tötet mich nicht. Lasst mich leben. Ich werde auch sofort von hier verschwinden und nie wieder zurückkehren. Ich werde niemandem davon erzählen, dass ich Geister gesehen habe.«
Die Geister sahen sich verwirrt an. Dann ergriff einer von ihnen das Wort.
»Wovon redest du denn da? Wir sind doch keine Geister. Wir sind kleine Schäfchenwolken und haben gerade Feierabend. Wir sind auf dem Weg zur nächsten Frittenbude, um gemeinsam unser Abendessen zu uns zu nehmen.«
Robert hielt den Atem an. Wolken? Keine Geister? Tatsächlich?
»Oh. Äh. Ja. Das wusste ich natürlich.«, stammelte er. »Ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt.«
Dann erhob er sich vom Boden und lief schnell nach Hause, während die Schäfchenwolken wieder über die Straße hinweg schwebten und sich um ihr Abendessen kümmerten.

(c) 2019, Marco Wittler

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