843. Fang den Sturm

Fang den Sturm

Ein kräftiger Sturm wehte über das Land, knickte Bäume um, deckte Dächer ab und warf auch so manche Kuhherde auf den Weiden um. Kinder, die zur Schule unterwegs waren, mussten sich immer wieder an Häusern und den Masten der Straßenlaternen festhalten, um nicht fortgerissen zu werden.
Niemandem gefiel, was sich hier gerade tat. Der Wind war zu gefährlich. Nur einer war begeistert.
Der Erfinder saß in seiner Werkstatt hinter einem Fenster und sah fasziniert nach draußen. Dieser Sturm war genau das, worauf er die letzten Jahre ungeduldig gewartet hatte. Jetzt war der große Augenblick gekommen, die Erfindung zu testen, die schon einige Zeit im Schrank verstaubte.
Der Erfinder holte sie hervor, stellte sie auf der Werkbank ab. Dann schnappte er sich einen Sack und lief nach draußen.
»Los! Komm her!«, rief er dem Sturm entgegen. »Alle Welt nimmt sich vor dir in Acht, sucht Schutz, aber ich stelle mich dir furchtlos entgegen. Komm und hol‘ mich.«
So eine Dreistigkeit hatte der Sturm in seinem langen Leben noch nie gehört. Er ließ sich die Aufforderung nicht zweimal sagen, stürmte dem Mann entgegen.
Der Erfinder öffnete mit einem Grinsen seinen Sack, fing mit einer eleganten Drehbewegung den Sturm ein und schnürte ihn fest ein. Schlagartig wurde es still um die Stadt. Das Unwetter war vorbei.
Mit schnellen Schritten betrat der Erfinder seine Werkstatt. Vorsichtig platzierte er den Sack, in dem es mächtig rumorte, vor seiner Erfindung und öffnete ihn.
Der wütende Sturm sprang heraus und landete gleich im nächsten Gefängnis. Ein großes Rad nahm ihn auf, schloss sich hinter ihm. Durch die Wucht des Sturms setzte es sich in Bewegung, begann sich zu drehen.
»Es funktioniert!«, jubelte der Erfinder. »Endlich habe ich etwas erfunden, das funktioniert.«
Das Rad drehte einen angeschlossenen Dynamo, der über ein Kabel mit einer Glühbirne verbunden war. Diese begann nun kräftig zu leuchten.
»Ich bin der erste Mensch, der Wind in Strom umwandeln kann. Das wird die Energiegewinnung revolutionieren. Da bin ich mir sicher.«

(c) 2020, Marco Wittler
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