964. Die Wurstbude

Die Wurstbude

Viele, viele Meter über unseren Köpfen, auf einer weichen, flauschigen Wolke, saß eine Gruppe Engel. Die einen hielten Musikinstrumente in den Händen, die anderen Liedblätter. Gemeinsam sangen und spielten sie alte und neue Weihnachtslieder, die sie von den großen und kleinen Menschen auf der Erde gehört und aufgeschnappt hatten.
Dies taten sie Tag ein und Tag aus, vom frühen Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang. Danach war es dann zu dunkel, um noch irgendwelche Noten lesen zu können.
An ihren Tun hatten die Engel sehr viel Spaß. Nur ganz selten unterbrachen sie das Singen und Musizieren, um zur Erde hinab zu schweben und neue Lieder zu lernen.
Eines Tages, ein paar Engel hatten ihre Flügel in langen Mänteln versteckt, waren sie wieder in einer Stadt unterwegs zu einer kleinen Kirche, in der gerade ein Weihnachtsgottesdienst gefeiert wurde.
»Wenn ich es euch doch sage.«, unterbrach einer von ihnen immer wieder die Stille. »Ich habe gehört, dass sie dort ein ganz neues Lied singen werden, das noch niemand kennt. Es soll dieses Jahr erst geschrieben worden sein. Das können wir uns auf keinen Fall entgehen lassen.«
Sie schwebten langsam über den Gehweg, achteten genau darauf, zwischen all den Menschen nicht aufzufallen.
Plötzlich blieb einer von ihnen stehen. Ein unbekannter, aber sehr verlockender Duft, stieg ihm in die Nase.
»Was ist denn das?«
Er drehte sich hin und her, versuchte die Quelle dieses Wohlgeruchs zu entdecken, den er in einer kleinen Bude wenige Meter weiter fand.
»Wurstbude.«, las er das Schild darüber laut vor und trat näher.
»Gute Frau, welch Gaumenschmaus kann man bei euch verköstigen?«, fragte der Engel freundlich.
»Na, wat meisnte wohl, wasses bei mich gibt? Da wo Wurstbude drauf steht, wird wohl auch Wurst drinne sein.«
Der Engel war irritiert und überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Frau hinter dem Tresen so wirsch antworten würde.
»Ich habe nie von solch Leckerei gehört, würde aber gern davon probieren.«
Die Frau seufzte und schüttelte leicht den Kopf.
»Ordentlich reden hasse wohl auch nich gelernt, was?«
Sie nahm ein Pappschälchen in die Hand, schnippelte eine Wurst Stück für Stück hinein und goss eine rotbraune, süßlich duftende Soße darüber.
»Hier! Das is unser Spezialität des Hauses. Die beste Currywurst der Stadt. Dat macht ordentlich Muckis inne Arme.«
Sie reichte dem Engel die Schale an.
»Macht dann zwo achtzich.«
Der Engel riss die Augen auf. Er hatte tatsächlich nicht daran gedacht, dass Menschen Dinge nicht einfach bekamen, sondern dafür zahlen musste.
Er lächelte verlegen und zeigte seine leeren Taschen vor. Die Frau in der Würstchenbude lief rot an. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten.
»Getz aber flotti hier. Mach bloß, dasse wech komms. Sowatt Unverschämtet habbich ja noch nie erlebt.«
Der Engel schwebte schnell davon und genoss hinter der nächsten Hausecke seine erste Currywurst.
»Wow, ist die lecker.«

(c) 2020, Marco Wittler

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