1246. Das Geheimnis des Geschichtenerzählers

Das Geheimnis des Geschichtenerzählers

Der Nachmittag war schon wieder viel zu schnell vergangen. Der Sand im Uhrenglas lag nun in der unteren Hälfte und zeigte damit an, dass eine ganze Stunde vergangen war. Der Geschichtenerzähler klappte sein dickes Buch zusammen und stellte es zurück in das große Regal, in dem tausende Geschichten gesammelt waren.
Die Menschen, die Tag für Tag in dem viel zu kleinen Raum Platz nahmen, genossen diese Ablenkung vom Alltag und die Reise in fantasievolle Abenteuer. Einer von ihnen war Erik, der vor ein paar Wochen das erste Mal von seinem Vater hierher mitgenommen worden war. Seitdem hatte er keine einzige Lesung verpasst, so sehr begeisterte ihn dieser Mann, der immer in einem großen, ledernen Ohrensessel saß.
Eine Sache ließ Erik aber keine Ruhe. Woher bekam der Geschichtenerzähler diese vielen Geschichten? Woher bekam er so viele Einfälle und Ideen? Das wollte Erik unbedingt herausfinden.
Langsam verließen die Zuhörer das Haus des Geschichtenerzählers und verteilten sich, über das Gehörte redend, in alle Richtungen. Erik blieb neben der Tür stehen und hoffte darauf, das Rätsel lösen zu können.
Der Geschichtenerzähler räumte noch ein wenig auf und schloss dann sorgsam seine Tür. Jetzt hatte Erik nicht mehr viele Möglichkeiten. Er musste heimlich durch das Fenster schauen.
Der Geschichtenerzähler war nun allein in seiner Stube. Er holte das eben noch gelesene Buch aus dem Regal und legte es auf seinen Tisch. Er schlug die nächste freie Seite auf. Doch statt zu Feder und Tinte zu greifen, holte er aus einem Versteck in der Wand eine Ledertasche hervor. Diese faltete er sorgfältig und andächtig auseinander, holte einen knorrigen Ast daraus hervor und wedelte ein paar Mal damit durch die Luft. Dabei murmelte er mehrere unverständliche Worte, die aus einer anderen Sprache zu stammen schienen.
Plötzlich sprangen alle Fenster auf. Aus allen Richtungen flogen kleine, schwarze Dinge heran, flogen ins Haus und sprangen in das Buch. Erik war so überrascht, dass er nicht schnell genug hatte ausweichen können. Ein paar dieser Dinger landeten auf seiner Wange.
Schnell wischte der Junge sie sich aus dem Gesicht. Auf seiner Hand entdeckte er drei Buchstaben. So entstanden also Geschichten. Sie schrieben sich wohl selbst. Aber wie war das nur möglich?
»Komm herein.«, sagte plötzlich der Geschichtenerzähler. »Glaubst du etwa, ich hätte dich nicht entdeckt?«
Erik stand auf. Mit hochrotem Kopf betrat er das Haus. Es war ihm mehr als peinlich, entdeckt worden zu sein.
»Es ist gut, dass du meinem Geheimnis auf die Spur gekommen bist.«, fuhr der Geschichtenerzähler fort. »Weißt du, ich bin schon sehr alt und werde den Menschen nicht mehr lange Geschichten erzählen können. Ich brauche einen jungen Nachfolger, den ich einweihen und lehren kann, damit er eines Tages meinen Platz einnimmt. Ich glaube, du bist der Richtige.«
Erik wusste nicht, was er antworten sollte. Er hatte doch eigentlich nur wissen wollen, woher die vielen Geschichten kamen.
»Ich schreibe die Geschichten nicht selbst, wie du vielleicht schon gesehen hast. Mit meinem Zauberstab hole ich sie zu mir. Sie spuken in den Köpfen unserer Mitmenschen herum. Unsere Nachbarn haben diese Ideen, können sie aber nicht in die richtigen Worten fassen oder trauen sich nicht, sie aufzuschreiben. Ich löse die Geschichten aus ihren Köpfen, vermische sie zu etwas Neuem und bringe sie in mein Buch. Am nächsten Tag lese ich sie dann vor. Und weil in jeder Geschichte ein Teil eines jeden Menschen steckt, hören sie mir alle so gern zu und mögen, was ich zu erzählen habe.«
Erik war begeistert. Das klang spannend, aufregend und fantastisch. Die Sache mit den fliegenden Buchstaben war noch verrückter, als er es sich vorgestellt hatte. »Ich bin dabei. Ich will lernen, ein Geschichtenerzähler zu werden.«
Der alte Mann nickte zufrieden. »Dann beginnt heute deine Ausbildung. Wir beginnen damit, die neue Geschichte zu vervollständigen.« Er ging auf Erik zu, nahm vorsichtig die drei Buchstaben von dessen Hand auf und legte sie sanft in das Buch. »Jetzt ist sie fertig. Morgen wirst du sie deinen Zuhörern vorlesen dürfen. Das ist deine erste Geschichte.«
Mehrere Jahrzehnte später war aus Erik ein alter Geschichtenerzähler geworden. Er wusste, dass sich seine Zeit dem Ende näherte und er einen Nachfolger brauchte. Und diesen hatte er schnell gefunden. Ein kleiner Junge hatte sich nach der Lesung hinter dem Fenster versteckt und wollte das Geheimnis der Geschichten lüften.

(c) 2022, Marco Wittler

 

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