1500. Die goldenen Blätter des Zauberwaldes

Die goldenen Blätter des Zauberwaldes

Der Zauberwald, dieser sagenumwobene Ort, von dem jeder schon gehört, ihn aber noch nie jemand gefunden hatte, sollte ein wahrhaft magischer Ort sein. Hier sollten sich Fuchs und Hase eine gute Nacht wünschen, Bäume mit ihren Blättern, frierende Igel zudecken, Prinzessinnen in Türmen eingesperrt sein und die eine oder andere Hexe ihr Unwesen treiben. Manch einer berichtete sogar von einem Baum, der goldene Blätter tragen sollte. Doch was es hier alles wirklich zu entdecken gab, wusste kein Mensch. Das mochte vor allem daran liegen, dass sich der Zauberwald perfekt als ganz normaler Wald gab und sich alles Magische versteckt hielt.
In einer hohen Baumkrone saß Tag für Tag ein kleines, blaues Monsterchen. Sein regenbogenbuntes Flauschefell bewegte sich sanft mit jeder Brise des Windes und in dessen Hörnern erzeugte er immer wieder ein leises Heulen.
Das Monsterchen hielt von seinem Platz alle Wege im Auge, die vom Rand des Waldes ins Innere führten. Sobald sich ein Mensch hierher verirrte, nahm es eines seiner Hörner vom Kopf, blies hinein und warnte damit alle Wesen, die nicht entdeckt werden wollten.
Eines schönen Tages verirrte sich ein junger Mann zwischen das satte Grün der Sträucher, Büsche und Bäume. Neugierig sah er sich um, studierte dabei ein zerfleddertes Notizbuch und murmelte immer wieder vor sich hin.
»Hier bin ich richtig. Hier muss ich richtig sein. Es kann gar nicht anders sein. Das muss der legendäre Zauberwald sein, von dem alle ständig erzählen. Ich habe ihn endlich gefunden.«
Sofort war das Regenbogenmonsterchen alarmiert. Es blickte zum Weg hinab und konnte ein paar der Notizbuchseiten erkennen. Dort hatte jemand Zeichnungen von Fabelwesen gemacht, von Zwergen, Einhörnern, einer Zauberin mit langem weißen Haar und einem Monster mit Hörnern und buntem Fell.
»Du meine Güte, das bin ja ich. Woher kommt dieses Buch, wer hat es angefertigt und warum weiß jemand wer hier lebt? Ich muss sofort die anderen warnen.«
Das Monsterchen griff sich an den Kopf, zog eines seiner Hörner ab und wollte gerade hinein blasen, als der Blick der jungen Mannes nach oben ging und es entdeckte. Ihm klappte der Mund auf, die Augen wurden riesig groß. Für mehrere Sekunden verharrten Beide und starrten sich gegenseitig an.
»Ich bin tatsächlich im Zauberwald. Das ist der Beweis.«
Der junge Mann klappte das Notizbuch zu, legte es vor sich auf dem Boden ab und trat ein paar Schritte zurück. »Ich glaube, diese Aufzeichnungen sind hier besser aufgehoben, als in den Händen eines Menschen. Niemand sollte euch finden und eure Ruhe stören dürfen. Je weniger von uns von euch wissen, desto besser.«
Das Monsterchen nickte und steckte sich sein Horn unbenutzt wieder an den Kopf. Es winkte dem jungen Mann dankbar zu, bevor sich dieser umdrehte, um den Wald wieder zu verlassen. Dann rüttelte es an den Ästen seines Baumes. Ein paar goldene Blätter fielen herab und landeten unbemerkt in den Taschen des Unbekannten.

(c) 2023, Marco Wittler

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*