1511. Grüne Piraten

Grüne Piraten

Paul zog die Stirn kraus. Irgendwas hatte sich während der letzten Atemzüge verändert. Die leichte Windbrise, die eben noch geweht hatte, war verschwunden. Der leise Singsang der Insekten war zur gleichen Zeit verstummt. Näherte sich etwa Gefahr?
Paul unterbrach sein Mahl, obwohl das frische Frühlingsgras unglaublich lecker war. Langsam hob er den Kopf. Selbst als junger Langhalsdinosaurier war es ihm ein Leichtes, über die langen grünen Halme der Grasebene hinweg schauen zu können. Er blickte nach links, nach rechts, sah noch vorn und nach hinten. Nichts. Er war mit seinen kleinen Freunden, die alle nur halb so groß waren, allein.
»Was geht da vor sich?« Ein Stegosaurusmädchen versuchte immer wieder auf den Hinterbeinen zu stehen, war aber zu klein. Gleiches galt für den Triceratops, der mit seinen drei Hörnern immer wieder im dichten Grün hängen blieb. »Das ist das Letzte Mal, dass ich mit euch so weit in die Wiese gehe. Ich komme kaum vorwärts und ich kriege nicht mit, was sich um uns tut. Das nervt.«
Während die Drei sich umblickten oder sich darüber beschwerten, nichts sehen zu können, begann die Erde unter ihren Füßen zu zittern. Aus dem Zittern wurde …
»Ein Erdbeben! Wir müssen uns sofort in Sicherheit bringen.«
Paul wollte loslaufen, doch dann fiel ihm ein, dass sie nirgendwo sicherer waren, als in der weiten Ebene. Es konnte ihnen kein Tropfstein auf den Kopf fallen oder ein Baum auf sie stürzen. Jetzt galt es nur noch darauf zu achten, dass sich unter ihren Füßen keine Spalten auftaten, die sie verschlingen konnten.
»Was ist das?« Paul entdeckte am Horizont einen dunklen Fleck, der sich rasch größer. Da näherte sich etwas sehr schnell.
»Ich will auch was sehen.« Stego versuchte auf den Rücken den Langhalses zu klettern, rutschte aber ab.
»Ich mach das schon.« Der Triceratops warf seinen Kopf hin und her, riss eine große Menge Grünzeug nieder und schuf so einen gut besteigbaren Haufen, damit sie alle über die endlose Ebene blicken konnten. »Ist das etwa ein Schiff?«
Paul schluckte schwer. Seine Eltern hatten ihm von einer alten Legende erzählt, von der niemand gedacht hatte, dass sie wahr wäre. Doch nun sah er sie direkt vor sich. »Das sind die grünen Piraten. Sie durchsegeln dieses Gebiet und sorgen überall für Angst und Schrecken. Sie sind gefürchtet. Niemand legt sich mit ihnen an. Wer es doch macht, bereut seinen Fehler sehr schnell. Wir müssen sofort von hier verschwinden.«
Paul sah sich um. Wohin nur? Es gab weit und breit kein Versteck. Bis zur Höhle war es zu weit, einen Wald gab es auch nicht. »Wir können uns nur flach auf den Boden legen und hoffen, dass sie uns nicht entdecken, wenn sie an uns vorbei segeln.«
Das Beben wurde immer stärker, war kaum noch zu ertragen. Das Piratenschiff erreichte die drei kleinen Dinosaurier. Ängstlich blickte Paul auf und sah das abenteuerlustige Aufblitzen in den Augen der gefährlichen Velociraptoren. Dabei traf ihn eine schlimme Gewissheit. Sie hatten das Versteck sofort entdeckt.
»Das ist unser Ende. Sie werden uns überfallen.« Doch das Schiff blieb nicht stehen. Es durchpflügte die Grashalme und ließ Paul und seine Freunde hinter sich.
»Was?« Der Langhals konnte es nicht glauben. Stimmte die Legende von den gefährlichen Piraten etwa nicht?«
Er stand auf, reckte seinen Kopf so hoch er nur konnte. Dabei traf ihn fast der Schlag. Nur wenige hundert Schritte hinter ihnen entdeckte er einen riesigen Tyrannosaurus Rex, der sich ihnen unbemerkt genähert hatte. Der gefährliche Räuber sah nun auch das Piratenschiff. Angsterfüllt riss er die Augen auf und suchte in seiner Panik das Weite. Mit den gefürchtete Halunken wollte er nichts zu tun haben.
»Die … die …« Paul konnte nur noch stottern. »Die Piraten haben uns das Leben gerettet.«
Nun machte das Schiff eine Kehrtwendung und näherte sich langsam den kleinen Dinos. »Ahoi!« Der Piratenkapitän beugte sich lächelnd herab und zog seine schwarze Augenklappe zur Seite. »Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen. Ihr wärt sonst noch als Mittagessen geendet. Ihr müsst besser auf euch aufpassen. Wir sind leider nicht immer in der Nähe, um die Schwachen vor den Starken zu beschützen.«
Er zwinkerte, winkte zum Abschied und gab das Kommando zur Weiterfahrt.
»Moment!« Paul richtete sich auf den Hinterbeinen auf. »Ich habe noch eine Frage. Wie könnt ihr überhaupt mit einem Schiff durch die grüne Ebene segeln? Her ist nirgendwo Wasser.«
Der Pirat lachte und klopfte mit seiner Faust auf die hölzerne Reling. Das Schiff bäumte sich auf, stieg höher. Darunter wurde ein riesiger Stegosaurus sichtbar. »Wir lassen uns natürlich vom kräftigsten aller Piraten tragen.«
Stego bekam große Augen. »Wie genial ist das denn? Ich möchte auch mal ein Pirat werden und ein Schiff durch das grüne Meer tragen. Da erlebt man bestimmt jeden Tag spannende Abenteuer.«
Der Raptorenkapitän nickte, lachte und ließ das Schiff wieder in See stechen.

(c) 2023, Marco Wittler

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