Roselotte Brombeergeist hält still
Die Nacht war über dem dunklen Wald hereingebrochen. Zu sehen waren nur noch die düsteren Umrisse der Bäume im fahlen Licht der Sterne, die den Mond umringten. Doch dieses wenige Licht reichte aus, um etwas ganz Wundervolles zu bewirken.
Wie durch einen Zauber öffneten sich auf einer kleinen Lichtung die weißen Blüten von mehreren Dutzend Blumen. Aus jeder von ihnen stieg ein gerade erwachter Geist empor. Nur einer von ihnen kletterte mühsam an einer Strickleiter herab und folgte den anderen zu Fuß.
Roselotte Brombeergeist ärgerte sich wieder einmal, einen Moment zu früh geboren worden zu sein und nicht über die typischen Geisterfähigkeiten zu verfügen.
»Jetzt beeil dich. Du kommst sonst noch zu spät.«, wurde sie immer wieder vom Obergeist ermahnt. »Wenn du nicht rechtzeitig am Holunder ankommst, wirst du nichts vom göttlich schmeckenden Holundernektar abbekommen. Das ist doch das Beste am Frühstück.«
Roselotte Brombeergeist verdrehte die Augen. Immer dieser Holundernektar. Sie wusste einfach nicht, was die anderen daran so toll fanden. Sie möchte süße Brombeeren einfach lieber. Die platzten so schön im Mund, wenn man sie zerbiss. Nach nur wenigen Metern bog sie ab und suchte sich ihr eigenes Nachtmahl.
Plötzlich knackte es im Wald. Schritte waren zu hören. Jemand Fremdes näherte sich der Geisterlichtung.
»Schnell weg hier!« Der Obergeist trommelte die Gruppe zusammen und trieb sie in ihre Verstecke in den luftigen Höhen der Baumkronen. Nur Roselotte blieb am Boden zurück. »Verkriech dich einfach in einem Mauseloch. Das muss reichen. Um dir nach oben zu helfen, ist nicht mehr genug Zeit.« Die Geister verschwanden.
Roselotte Brombeergeist sah sich verzweifelt um. Wohin nur? Nirgendwo war ein Loch. Was sollte sie nur machen? Es blieb ihr nichts anderes übrig, als auf ihre Tarnfähigkeiten zu vertrauen. Sie kletterte auf ihre Blume, breitete sich darauf aus und hoffte, für ein Spinnennetz im Altweibersommer gehalten zu werden. »Jetzt nur noch stillhalten.«
Wenige Augenblicke später kam ein Mensch auf die Lichtung. Sofort entdeckte er das kleine Geistermädchen und erschrak. »Hilfe! Ein Vampir!«
Er nahm die Beine in die Hand und rannte zurück in die Dunkelheit.
»Da hast du gerade noch einmal Glück gehabt, dass du unsere Geisterexistenz nicht verraten hast.« Der Obergeist schwebte aus seiner Baumkrone herab, baute sich vor Roselotte Brombeergeist auf und wischte ihr den Brombeersaft von den Mundwinkeln.
(c) 2023, Marco Wittler
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