1564. Die Welt im Einmachglas

Eine Welt im Einmachglas

Die Tür des kleinen Souvenirshops öffnete sich und schlug gegen eine Klingel. Während ein Mann mit seiner Tochter den Laden betrat, tauchte aus dem hinteren Bereich eine junge Frau, die ihren Platz hinter der Verkaufstheke einnahm. »Schauen sie sich ruhig um. Bei uns wird jeder etwas Passendes finden.«
Der Mann nickte dankbar und sah zu, wie seine Tochter zwischen den Regalen verschwand. »Sophie, sei bitte vorsichtig, dass nichts kaputt geht.«
»Ist gut, Papa.«
Es rumpelte. Es klimperte. Zum Glück fiel aber nichts zu Boden. Nach ein paar Minuten kam Sophie zurück. »Ich habe ganz hinten in der Ecke etwas in einem alten Pappkarton gefunden.« Stolz hielt sie ein kleines Einmachglas in der Hand. Statt des üblichen Obstes befand sich ein kleines, künstliches Meer darin, ein Leuchtturm auf einem Felsen und ein Segelschiffchen. Sie stellte es auf die Theke.
»Hm. Ist ja komisch. Da steht gar kein Preis drauf.«, wunderte sich die Verkäuferin. »Ich kann mich auch gar nicht erinnern es jemals gesehen zu haben. Das muss aus der Anfangszeit des Ladens stammen, als meine Oma noch sehr viel selbst gebastelt hat.« Sie beugte sich vor und zwinkerte. »Weißt du was? Ich schenke es dir.«
Sophie war begeistert. Doch bevor sie den Shop verließ, griff sie in die Hosentasche, holte etwas von ihrem Taschengeld heraus und steckte es in die Kaffeekasse.
Papa und Sophie setzten sich an einer Haltestelle auf eine Bank und warteten auf den Bus. Dort nahm sie ihr Andenken genauer unter die Lupe. Plötzlich riss sie die Augen auf.
»Papa, schau, das passiert etwas.«
Papa lachte. Nein. Das konnte er sich nicht vorstellen. Sie hatten doch nur ein Souvenir bekommen.
»Jetzt schau doch. Du wirst es mir sonst eh nicht glauben.«
Er seufzte, blickte dann aber doch in das Einmachglas. Beinahe augenblicklich klappte ihm die Kinnlade herunter. »Das … das kann doch gar nicht sein.«
Und doch sahen sie es. Das Segelschiff hatte sich in Bewegung gesetzt, während das Licht im Leuchtturm entzündet wurde. Hinter dem Felsen tauchte ein Piratenschiff auf. Kanonen wurden abgefeuert. Eine wilde Jagd fand an den Meeresrändern entlang des Glases statt.
»Nein!« Sophie schrie auf. »Ich möchte keine Gewalt in meinem Andenken. Ich will das nicht.« Vorsichtig griff sie mit zwei Fingern nach den Piraten, fischte sie aus dem Glas und setzte das Schiffchen auf einer Pfütze ab, die sich beim letzten Regen dort gebildet hatte.
»So gefällt mir das schon besser. Wer auch immer in meinem Andenken lebt, soll gut behütet sein.«
In diesem Moment kam der Bus. Papa und Sophie stiegen und fuhren davon.

(c) 2024, Marco Wittler

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