1565. Die kleine Bergschnecke

Die kleine Bergschnecke

Es war noch recht früh am Morgen, als sich der erste Sonnenstrahl einen Weg zwischen den hohen Berggipfeln suchte. Dabei musste er so manchem Felsen ausweichen, Bäume und Sträucher umkurven, bis er im Tal auf ein Hotelfenster traf, welches er mit Leichtigkeit durchdrang. Kurz sah er sich um, entdeckte sein Ziel und stach einem Schlafenden direkt ins Auge. »Habe ich dich!« Er lachte leise und empfand große Freude daran, jemanden geweckt zu haben. Kurz darauf kroch die helle Sonnenscheibe als Ganzes über die Berge und läutete einen neuen Tag ein.
Nino, der gerade vom hellen Licht unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war, streckte seine Arme weit von sich und gähnte laut. »Ist es schon wieder so weit? Muss ich wirklich aufstehen? Ich hätte doch so gerne noch eine Weile geschlafen.« Doch dafür war es nun zu spät.
Nino legte die warme Decke zur Seite und glitt langsam auf seinem einzigen Fuß von der Matratze.
Moment mal.Fragst du dich, warum Nino nur einen Fuß besaß? Das ist eine sehr gute Frage, die im weiteren Verlauf dieser Geschichte von großer Wichtigkeit ist. Er hatte den anderen nicht etwa durch einen Unfall verloren. Er hatte nämlich sein ganzes Leben lang nur einen besessen. Nino war eine Schnecke und die haben eben nur einen einzigen Fuß.
»Wenn ich schon einmal wach bin, dann kann ich auch direkt nach draußen und den Urlaub genießen.«
Langsam kroch er in die Küche, versorgte seinen kleinen Hund und bereitete sich dann sein Frühstück. »Wer in den Bergen unterwegs sein will, muss gut gegessen haben. Nichts ist schlimmer, als Hunger zu bekommen, wenn kein Geschäft in der Nähe ist.« Dazu gab es noch eine große Tasse warmen Kakao.
Nach einer Stunde fühlte sich Nino genug gestärkt. Er verkroch sich kurz in sein Schneckenhaus, welches er rund um die Uhr auf seinem Rücken mit sich trug und kam in einem bunten Schneeanzug wieder zum Vorschein.
Ja, ich weiß, was du jetzt anmerken möchtest. Nino hätte gar kein Hotel buchen müssen. Schnecken können immer und überall übernachten. So ein Schneckenhaus ist halt noch viel praktischer als ein Wohnmobil. Schnecken müssen keinen Parkplatz suchen und bezahlen. Trotzdem mochte es Nino sehr, in einem weichen Bett unter einer dicken Decke zu schlafen.
»Wir brechen auf. Lass uns gehen, Wuschel.«
Wuschel, der kleine weiße Hund, der Nino niemals von der Seite wich, flitzte zum Schrank, holte darunter ein Skateboard hervor und zog die sonst viel langsamere Schnecke hinter sich her. Erst ging es durch die Flure, dann durch die Eingangshalle, entlang der Straßen, bis sie vor einem Skilift standen.
»Oh, ich bin schon sehr darauf gespannt wie es sich anfühlt, wenn man das erste Mal von einem Berg ins Tal fährt. Ich habe das so oft schon in der Sportschau gesehen, aber nie selbst ausprobiert.«
Mit vielen anderen Touristen stiegen sie ein und wurden eine ganze Weile nach oben zum Gipfel gezogen. Nino, der sich an der Aussicht, an den vielen Bergen, die sie umgaben, nicht sattsehen konnte, legte plötzlich die Stirn in Falten. »Irgendetwas stimmt hier nicht, Wuschel. Schau dich doch mal um.« Auch der kleine Hund sah nun nach draußen. Er konnte zwar keine richtige Antwort geben, wuffte aber kurz.
Die Gondel erreichte die Bergstation. Alle Reisenden stiegen aus. Augenblicklich verschwand bei ihnen die gute Laune. Sie standen in einer grauen Umgebung, die nur aus Felsen, Geröll und Steinen bestand. Wo war nur der Schnee?
Der Betreiber der Seilbahn kam schnell herbei. Sein Gesicht spiegelte die eigene Enttäuschung wider. »Leute, es tut mir wirklich sehr leid. Aber diesen Winter können wir euch hier oben keinen Schnee bieten. Es ist viel zu warm. Es fällt sein Wochen nur noch Regen. Ihr könnt nur wandern, spazieren gehen oder die Aussicht genießen.
Manche Besucher stöhnten genervt auf, andere schüttelten ungläubig die Köpfe. Ein Kind stieß seinen Schlitten weg und begann zu weinen.
»Schau dir das an, Wuschel. Die Menschen sind traurig. Sie haben sich so sehr auf ihren Urlaub gefreut, aber der ist nun buchstäblich ins Wasser gefallen. Auf Skiern kommt heute niemand mehr zurück ins Tal.«
Nino dachte nach. »Hm. Warum eigentlich nicht? Wer sagt denn, dass es unbedingt Schnee sein muss, auf dem man fährt?« Er grinste von einem Fühler zum anderen. »Ich habe da eine grandiose Idee.« Er winkte die Menschen zu sich. »Schnallt euch eure Bretter unter die Füße und folgt mir hinab ins Tal. Ich werde schon dafür sorgen, dass der heutige Tag nicht nur unvergesslich, sondern auch unvergesslich schön wird.«
Kaum hatte sich die Gruppe um Nino versammelt, glitt er auf seinem Fuß den Berg hinab. Dabei blieb jede Menge Schneckenschleim auf dem Geröll haften. Die Skifahrer folgten ihm in einer langen Kette, bis sie wieder im Tal angekommen waren.

(c) 2024, Marco Wittler

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